Dieser Bond Film ist anders. Natürlich hält er an der bewährten Erfolgsmischung aus spektakulären Actionszenen, schönen Frauen und seinem charismatischen Superhelden fest. Aber anders als in der Brosnan-Ära oder in der zweiten Hälfte der Moore-Ära ruhen sich die Macher nicht darauf aus und machen routiniert Dienst nach Vorschrift. Nein, „Spectre“ ist wahrscheinlich der liebevoll ausgefeilteste Bond Film, den es je gab. Die Dialoge sind puristische Meisterwerke und erinnern in ihrer auf den Punkt reduzierten und konzentrierten Kraft an Klassiker wie „Gilda“ oder „Casablanca“. Antoine de Saint-Exupéry sagte einmal: „Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern, wenn man nichts mehr weglassen kann.“ Die Spectre-Dialoge besitzen diese Perfektion. Gleiches gilt fast durchgehend für die schauspielerische Leistung der Hauptdarsteller. Insbesondere für Daniel Craig und Monica Bellucci.
Aber auch optisch übertrifft „Spectre“ alle bisherigen Bonds. Schon bei „Im Geheimdienst ihrer Majestät“ mit Einmal-Bond George Lazenby (1969) oder „Skyfall“ war die Kameraarbeit spektakulär, aber „Spectre“ toppt selbst das. Zuweilen gewinnt man fast den Eindruck, dass dieser Film ein Experiment ist, bei dem die Macher ausprobieren wollten, wie andere große Filmregisseure wohl einen Bond Film inszenieren würden. Oft wird bedauert, dass die Superstars der Regie nie Gelegenheit bekamen, einen Bond zu inszenieren. (Quentin Tarantino hätte z.B. gerne „Casino Royale“ inszeniert, aber die Produzenten erteilten ihm eine Abfuhr.) In „Spectre“ kann man eine Ahnung davon bekommen.
Die ganze Sequenz, die in Rom spielt, hätte so auch von Stanley Kubrick stammen können – oder die Ankunft in der Wüste von Alfred Hitchcock. Wahrscheinlich ist „Spectre“ der stilvollste Bond seit „Liebesgrüße aus Moskau“ und mit Sicherheit der subtilste der gesamten Serie. Traditionell gilt für Bond Filme „what you see is, what you get“, so, dass jeder Zuschauer sofort alles versteht. „Spectre“ dagegen ist mehr wie eine Folge der Simpsons. Da gibt es eine Ebene für Kinder und eine Ebene für Erwachsene, welche die Kinder gar nicht bemerken. Auch in Spectre existiert eine solche zweite Ebene. In dem Film wimmelt nur so von subtilsten Anspielungen auf klassischen Bond-Filmszenen, aber auch auf andere Filme und die Literatur-Ebene. Ein Beispiel: Üblicherweise tragen die Bond-Girls absurde (oft schon zotige) Namen wie Pussy Galore oder Strawberry Fields. Jeder versteht diese Komik. Die weibliche Hauptfigur in „Spectre“ hingegen heißt Madeleine Swann. Das ist zunächst einmal nicht ungewöhnlich und erschließt sich erst, wenn man vertraut ist mit Marcel Prousts monumentalen Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und wenn man weiß, dass der erste Band – von sieben Bänden – „In Swanns Welt“ heißt und dass es dort eine sehr berühmte Szene gibt, in der von dem Geruch des Madeleine-Gebäcks die Rede ist. Den meisten Fans wird das nicht bewusst sein, aber – und das ist symptomatisch für den ganzen Film – den Machern ist das schnuppe. Sie haben diese Elemente hereingebracht, obwohl ihnen klar sein musste, dass sie von den meisten Fans gar nicht bemerkt werden würden. Sie haben es trotzdem getan, weil sie es einfach so wollten – und dies an unzähligen Stellen, für deren Entdeckung man vielleicht Jahre brauchen wird und dadurch wird „Spectre“ – vielleicht als erster Bond Film überhaupt – zu einem Kunstwerk.
Nur in den letzten zwanzig Minuten kippt es leider. Man hat stilistisch eher den Eindruck, einen beliebigen Actionblockbuster zu sehen. Zwar gut gemacht, aber für einen Bond zwei Nummern zu klein. Die allerletzten Minuten zeigen dann etwas, was so man noch nie in einem Bond Film gesehen hat und sicher auch nie wieder sehen wird. Inhaltlich ist es sinnvoll, aber formal leider uninspiriert umgesetzt. Es ist ein Schluss, über den zweifellos noch viel diskutiert und gestritten werden wird. Vielleicht kann man sich damit trösten, dass die letzte halbe Stunde in fast allen Bond Filmen die schwächste ist.
Daniel Craig hat in einem Interview gesagt, er würde sich eher die Pulsadern aufschneiden, als noch einen Bond Film zu drehen. Das mag nur ein grimmiger Scherz nach höchst strapaziösen Dreharbeiten gewesen sein, aber auf jeden Fall ist „Spectre“ der inhaltliche Abschluss der drei vorangegangenen Bond Filme mit Craig. Ein Kreis hat sich geschlossen und ein weiteres Mal Craig als Bond wäre eine Zugabe zuviel. Das ist schade, denn in „Spectre“ hat er endlich zu dem Bond gefunden, wie Ian Fleming ihn geschrieben hat.
VÖ: 04.11.2015
Gesehen von: Stefan Lehnberg