Gesehen: „Perfect Sense“ von David Mackenzie

perfect senseWie reagieren Menschen, wenn sie mit dem Verlust ihrer Sinneswahrnehmungen konfrontiert werden? Grenzlose Panik oder eine Wertverschiebung im großen Stil? „Hallam Foe“-Regisseur David Mackenzie nahm sich in fünf Drehwochen diesem beklemmenden Szenario an und positionierte inmitten dieser Endzeitstimmung die Liebe zweier eigenbrötlerischer Seelen.

In den 1950er Jahren führte in Kanada der Psychologen Donald Hebb Studien zu den Effekten der sensorischen Deprivation durch, in welchen hauptsächlich Studenten für eine unbestimmte Zeit im Bett liegen und nichts tun sollten. Der Raum war schalldicht, die Augen verbunden sowie die Arme und Hände mit Isolierrollen versehen und die Ohren mit einem Kissen bedeckt. Dies hatte zur Folge, dass selbst die grundgesunden Personen nach höchstens einer Woche verzweifelt abbrachen. Denn durch die Isolation entwickelten sich in Windeseile Halluzinationen und ein Gefühl von Fremdheit im eigenen Körper. So stellte man fest, dass das Gehirn stets Reizen ausgesetzt werden muss, um nicht selbst illusorische Sinneseindrücke hervor zu bringen.

Diese Versuche könnten in wissenschaftlicher Form das sein, was nach dem Abspann von David Mackenzies Epidemie-Drama „Perfect Sense“ zu mutmaßen wäre. Sein Film belebt die Isolationsexperimente der 1950er Jahre noch einmal ganz neu. Er nimmt sich der Fragestellung an wie eine Person reagiert, wenn ihr alle Sinne genommen werden. Der große Unterschied zu dem oben genannten Studien ist jedoch, dass Mackenzie in seinem Schauspiel nicht alle Sinneswahrnehmungen mit einem Mal entzieht, sondern mit der Ruhe eines durchtriebenen Psychopaten einen Sinn nach dem anderen entreißt. Dem voran gehen extreme Gefühlsausbrüche. Ob eine Welle der bodenlosen Trauer, heißen Wut oder gar der reinsten Liebe – in den anderthalb Stunden prasselt einfach alles auf das Protagonistenpärchen Michael (Ewan McGregor, arbeitete schon 2003 bei „Young Adam – Dunkle Leidenschaft“ mit dem Regisseur zusammen) und Susan (Eva Green, „Die Träumer“) ein.

Wie schon in besagten Studien zwingt der Raub der Sinne – in diesem Falle aufgrund einer Epidemie mit unbekannter Ursache – den Menschen genüsslich in die Knie. Doch neben all dem Wahnsinn beweist die Bevölkerung im apokalyptisch anmutenden Glasgow eine überraschende Zähheit. Die Epidemiologin Susan sucht permanent nach Antworten in jeder Lebenslage. Sie wird als eine der ersten mit dem sich rasant ausbreitenden Virus konfrontiert und kann an dieser Stelle dem nur noch hilflos entgegenblicken. Michael ist dagegen ein charismatischer Chefkoch in einem angesehenen Restaurant und es trifft ihn wie ein mannsfester Schlag ins Gesicht, als die Menschen zunächst nicht mehr riechen und bald auch über keinen Geschmackssinn mehr verfügen. Der Ausweg liegt in der Umgewichtung auf den Klang, die Farben und Formen des Essens.

Mackenzie ruft mit genau solch einer Fülle an Ideen sowie fotografischer Präzision ein Aufjauchzer des Entzückens nach dem anderen hervor. Ewan McGregor und Eva Green verwöhnen den Betrachter nicht nur äußerlich. Es stimmt auch spürbar die Chemie in den Momenten, in denen die beiden sich wirklich nah sind, sie die schützenden Masken dabei langsam ablegen und nur noch Haut und Emotionen zeigen müssen. Dies ist definitiv ein Film des Jahres! Der Regisseur hat mit diesem Werk seine Beobachtungsgabe verfeinert und ein weltweit betreffendes Thema in einem intimen Rahmen gekonnt in Szene gesetzt. Wenn es auch mit Filmen wie „Das Experiment“ (2001) packende Psychospiele und u.a. mit „12 Monkeys“ (1995) oder „Contagion“ (2011) bedrückende Epidemie-Thriller bereits gibt, muss man David Mackenzies lebensbejahendes „Perfect Sense“ einen Ausnahmestatus genehmigen.perfect sense2

„Es ist schwer, zeitgenössische Liebesgeschichten zu erzählen, denn wir sind der ganzen Klischees müde. Das ist wie bei Popsongs – wer will noch einen zum Thema „Liebe“ hören? Die Aufgabe besteht also darin, aus dieser Liebe etwas Besonderes zu machen. Inwiefern ist sie anders als alle anderen Liebesgeschichten? Heutzutage sind wir so zynisch, dass wir einen Schock brauchen, um Liebe aus einem neuen Blickwinkel zu sehen – und darin besteht die Schönheit dieser Story, die sich unter extremen Umständen abspielt.“ (David Mackenzie)

Bei diesem neuartigen filmischen Isolationsexperiment rund um die sensorischen Verluste möchte man nicht vorzeitig austeigen wie die Probanden bei den Donald Hebb Versuchen. Wenn den Darstellern auch alles genommen wird, so schlägt dem Zuschauer eine umso beeindruckendere Bildgewalt entgegen. Der Schotte Mackenzie zieht es einfach durch. Das Grauen. Die Angst. Die Panik. Die Liebe. Und schließlich die Stille.

VÖ: 08. Dezember 2011

Gesehen von: Hella Wittenberg