Gesehen: „A Haunting in Venice“ von Kenneth Branagh

Mythos „Whodunit“ – Warum fasziniert uns dieses eher schlichte Film-Genre seit eh und je? Laut Begriffsdefinition handelt es sich bei dem Wort um die phonetisch geschriebene Frage „Who done it?“ (kurz für „Who has done it?“), zu Deutsch: „Wer hat es getan?“

Diese Frage stellten sich schon legendäre literarische Detektivgrößen wie Sherlock Holmes, Miss Marple und natürlich auch Hercule Poirot. An der Affinität, Eloquenz und Spitzfindigkeit jener Autoren und deren literarischer Bedeutung, kein Zweifel. Der Stoff bietet selten Raum zur Verbesserung, Veränderung oder gar Neuinterpretationen, was jedoch für eine cinematische Realisierung gerne außer Acht gelassen wird. Die daraus entstehende Gefahr, dass es zum Misserfolg an den Kinokassen und zur Missgunst im Publikum führen kann, ist abzusehen. Der vorliegende Film ist in weiten Teilen leider ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man das Fingerspitzengefühl einer Neuinterpretationen gänzlich vermissen lässt.

Nach dem beachtlichen Erfolg von „Mord im Orient Express“ (2017/ über $400 Mio. weltweit), war die geplante Kinopremiere des zweiten Teils „Tod auf dem Nil“ für Ende 2019 anberaumt. Doch aufgrund der Übernahme von 20th Century Fox durch Disney zum einen, zum anderen der Turbulenzen infolge der Corona-Pandemie und Negativschlagzeilen rund um den Schauspieler Armie Hammer könnte man fast vermuten, dass eine Art düsterer Schatten auf den Verfilmungen von Agatha Christies Werken lastet – bedenkt man weiterhin, dass auch schon Johnny Depp im ersten Film mit Negativschlagzeilen auffiel. Mit weltweiten Einnahmen von nur $137,3 Mio, hinkt der zweite Teil dem ersten deutlich hinterher.

„Aller guten Dinge sind drei“

Aber frei nach dem Motto: „Aller guten Dinge sind drei“, wagt sich Regisseur und Hauptdarsteller Kenneth Branagh jetzt ein weiteres Mal an den Stoff des charismatischen Meisterdetektivs Hercule Poirot. Im Gegensatz aber zu den vorherigen Filmen, welche klassische Neuinterpretationen bekannterer Geschichten Christies’ waren, hat sich Branagh dieses Mal für ein weniger beachtetes Werk der Autorin entschieden. Basierend auf ihrem „Hallowe’en Party“ („Die Schneewittchen-Party“), erlaubt sich Branagh nicht nur den Erzählstrang in vielen Belangen zu verändern, sondern stößt auch in ein, zumindest für die Poirot-Reihe, ungewöhnliches Genre vor. Bereits zu Beginn des Filmes wird offensichtlich, dass er gezielt in okkulte Gefilde vordringt, was dem Film, im Gegensatz zu den farbenfrohen Vorgängern, eine karge, unabdingbar schaurige Aura verleiht.

Branagh experimentiert hier in seiner Regiearbeit mit einer breiten Palette von Techniken. Zuweilen wählt er einen wackeligen Kamerastil, der an Found-Footage-Horror erinnert, während er unsicher durch einen Raum navigiert. Unzählige „Dutch Angles Shots“ (schräg- bzw. schiefwinklige Aufnahmen) signalisieren, dass etwas nicht stimmt, desorientierend oder beunruhigend sein soll. Plötzlich sprechen die Charaktere direkt zur Kamera, und wir realisieren, dass wir als Poirots Augen agieren. Gepaart mit der Theatralik des Schauspiels, wirkt diese integrierte Regieführung befremdlich und deplatziert. Möglicherweise soll es der Versuch sein, uns tiefer in das Geschehen hineinzuziehen, jedoch gibt es nicht viel Geschehen, dem wir folgen können. Denn statt auf die Wirkung des „Whodunit“– Genres zu vertrauen, kaut der Film durch Effekthascherei dem Zuschauer alles vor.

Drehbuchautor Michael Green, welcher auch die beiden anderen Poirot-Filme verfasste, verlagert die Handlung von England nach Venedig und versetzt sie von ihrer ursprünglichen Kulisse der 1960er Jahre ins Jahr 1947. Venedig blieb im Zweiten Weltkrieg größtenteils unberührt und versprüht mit seinen unzähligen labyrinthartigen Gassen und dunklen Nischen einen Hauch morbider Eleganz. An Originalschauplätzen gedreht, setzt DoP Haris Zambarloukos die berühmten Wahrzeichen Venedigs, wie den Markusdom und den Canal Grande, geschickt zu Beginn und am Ende des Films in Szene, um den nötigen Kontrast zu den beengten Räumen im Palazzo zu schaffen, wo sich der Großteil der Handlung entfaltet. Zudem wurde auf das altbewährte 70mm-Breitbildformat verzichtet und stattdessen im konventionellen Kinostandard-Format von 1,85:1 gedreht, da dies zusätzlich für beklemmende Enge sorgen sollte.

Und plötzlich ein neuer Fall für Poirot…

Doch trotz der scheinbaren Idylle, hält der Krieg noch immer seine schattenhaften Griffe über viele der Protagonist*innen, welche über Halluzinationen und Geistererscheinungen klagen. So auch Poirot (Kenneth Branagh), der, von unruhigen Träumen geplagt, seinen wohlverdienten Ruhestand in Venedig gefunden hat und sein Leben in vollen Zügen genießt. Zahlreiche Bittsteller vor seiner Tür würdigt er nicht nur keines Blickes, sondern lässt sie von seinem Leibwächter (Riccardo Scamarcio) abwimmeln. Allem Anschein nach hat Poirot tatsächlich mit seinem früheren Leben abgeschlossen. Doch alles ändert sich, als seine langjährige Freundin, die Bestsellerautorin Ariadne Oliver (Tina Fey), unerwartet auftaucht und ihn überredet, an einer Séance teilzunehmen, um das vermeintliche Medium Joyce Reynolds (Michelle Yeoh) als Betrügerin zu entlarven. Die Einladung zur Séance kommt von der einst gefeierten Opernsängerin Rowena Drake (Kelly Reilly), welche seit dem tragischen Tod ihrer Tochter Alicia nicht mehr gesungen hat, und fest entschlossen ist, Kontakt zum Geist ihrer verstorbenen Tochter aufzunehmen.

Schon bei seiner Ankunft erfährt Poirot von der Haushälterin Olga (Camille Cottin), dass im Palazzo seit vielen Jahren Unheimliches geschieht. Das Gebäude war einst ein Waisenhaus, das während des Kriegs von den Ärzten und Nonnen aufgegeben wurde. Die hinterbliebenen Kinder starben daraufhin eines grausamen Hungertodes. Seitdem sollen im Haus Personen auf misteriöse Weise ums Leben gekommen sein. Poirot mag dies zunächst als Aberglauben abtun, doch er kann nicht leugnen, dass der Palazzo von Rowena Drake eine unheimliche Aura ausstrahlt. Während der Séance ist Poirot schnell davon überzeugt, dass er die Tricks von Miss Reynolds durchschaut hat und sie als Betrügerin entlarvt. Doch dann verliert Joyce die Kontrolle und spricht mit der Stimme eines Mädchens. Was steckt dahinter? Selbst Poirot ist vorerst ratlos. Während er noch darüber nachdenkt, wird er von jemandem angegriffen, der versucht, ihn zu ertränken. Handelt es sich um einen Anschlag auf ihn? Offenbar nicht, denn das Ziel des Angriffs ist jemand anderes, dessen Leiche bald darauf gefunden wird. Und plötzlich befindet sich Hercule Poirot mitten in einem neuen Fall… 

Ein unterhaltsamer Halloween-Flick

Zusammenfassend wird deutlich, wie enorm anspruchsvoll es ist, ein Franchise auf einem konstant hohen Niveau zu halten, selbst für einen so versierten Filmemacher wie Kenneth Branagh. Sein Bestreben, Hercule Poirot mit dem Horrorgenre zu verknüpfen, erweist sich leider als Enttäuschung. Trotz all der visuellen Effekte bleiben die Entwicklung der Figuren, deren zwischenmenschliche Beziehungen zueinander und die Verbindung zur eigentlichen Handlung oberflächlich und hastig behandelt. Somit wird das „who“ in „whodunit“ am Ende des Filmes gänzlich trivialisiert. Dies mag auch der kurzen Filmlänge geschuldet sein, denn mit nur 103 Minuten ist „A Haunting in Venice“seinen Vorgängern gegenüber rund eine halbe Stunde kürzer geraten. Auch das obligatorische Staraufgebot Hollywoods ist dieses Mal ausgeblieben. Man bevorzugte diesmal wahrscheinlich einen skandalfreien Cast. Die frischgebackene Oscar-Preisträgerin Michelle Yeoh („Everything Everywhere All At Once“) hat als größter Star und absoluter Scene-Stealer eine überraschend kleine Rolle, wohingegen Comedy-Queen Tina Fey völlig fehl am Platz erscheint. Mit einer Stimme, welche stark an Mrs. Maisel erinnert, wirkt ihre Figur neben Branaghs makelloser Paraderolle wie ein Fremdkörper und ist im Grunde ein Abklatsch ihrer Figur aus „Only Murders In The Building“. Der Rest des Casts rund um Jamie Dornan (“50 Shades of Gray”), Emma Laird (“Mayor of Kingstown”) und Kelly Reilly (“Yellowstone”) bleibt eher blass, was wiederum zeigt, dass selbst ein talentierter Cast einen Film mit unterdurchschnittlichem Drehbuch nicht retten kann. Branagh hatte bereits vor dem Kinostart angekündigt, im Erfolgsfall weitere Poirot-Verfilmungen in Erwägung zu ziehen, was anhand der Qualität der Vorliegenden eher unwahrscheinlich erscheint.

Wer also Lust auf Gruselstimmung verspürt, wird mit „A Haunting in Venice“ einen unterhaltsamen Halloween-Flick genießen können. Mehr nicht. Schade.