Gelesen: Sarah Kuttner „Kurt“

Uiuiuiu, ob das gut geht? Das fragt man sich die ersten Seiten von Sarah Kuttners neuem Roman „Kurt“ ein ums andere Mal. Das ist ja ganz sympathisch, wie wir diese kleine Patchwork Familie kennenlernen, Lena und ihre zwei Kurts, der große und der kleine. Schön locker flockig erzählt, mit dem für Sarah Kuttner typischen Ton, wortgewandt und witzig, manchmal etwas flapsig, auch das ist man von Sarah Kuttner gewohnt. Lena liebt den großen Kurt, der wiederum den kleinen Kurt mit in die Beziehung gebracht hat. Für den ist das Paar extra von Berlin nach Brandenburg gezogen, weil die Mutter des kleinen Kurt jetzt dort lebt und er dort zur Schule geht, damit die Eltern ihren Verpflichtungen als solche besser gemeinsam nachgehen können. Eigentlich liebt Lena Brandenburg, schließlich hat sie alle Sommer ihrer Kindheit dort verbracht. In Brandenburg zu leben, im eigenen Haus mit Mann samt Kind, das nicht das eigene ist, ist dann aber doch etwas anderes. Der große Kurt hingegen kommt gebürtig aus Brandenburg, weshalb er mit dem Lieferanten, der Pflanzen für den Garten liefert, sofort einen anderen Schnack hat. Überhaupt hadert Lena viel mit ihrer Position innerhalb dieses Kurt/Kurt-Gefüges. In wieweit erwartet man von ihr, dass sie sich in die Erziehung mit einbringt? Und was erwartet der kleine Kurt von ihr? Als er wegen eines verlorenen Zahns Trost bei ihr sucht, ist Lena froh. Trost spenden ist etwas Konkretes, es ist vergleichsweise einfach.

Soweit, so gut. Aber Sarah Kuttner erzählt in „Kurt“ nicht die Geschichte einer Patchwork Familie, die sich in ihrem neuen Leben im gemeinsamen Heim nördlich von Berlin zurechtzufinden versucht. Denn nachdem alles so lustig anfing, stirbt der kleine Kurt. Völlig überraschend, bei einem Unfall, der so alltäglich banal ist, dass er eigentlich nicht passieren dürfte. Und ohne Sarah Kuttners Erzählweise grundsätzlich werten zu wollen, kommt man irgendwie nicht drum herum, sich die ersten Seiten immer wieder zu fragen, ob sie die nötige emotionale Tiefe aufbringen wird, um mit der größtmöglichen Katastrophe, die einem als Eltern widerfahren kann, angemessen umzugehen. Gut, vor ernsten Themen hat Sarah Kuttner sich auch in der Vergangenheit nicht gescheut. In „Mängelexemplar“ schrieb sie über Depressionen, in „Wachstumsschmerz“ über die Schwierigkeiten des Ankommens im Erwachsenenleben. Aber der Tod eines Kindes, das ist schon eine andere Hausnummer.

Zum Glück macht Sarah Kuttner eins von Anfang an richtig: sie setzt ihre Hauptfigur Lena auf die einzige Position, aus der man diese Geschichte überhaupt ertragen kann. Nämlich auf die der Außenstehenden, der, die zu Klein-Kurts Lebzeiten sich schon nicht so richtig sicher war, welche Rolle sie dem Kind ihres Partners gegenüber einnehmen soll, wieviel Nähe erwünscht, wieviel Distanz angebracht ist. Wie kann man dann wissen, wie man mit dieser übergroßen Trauer umgehen soll, mit der alle um einen herum beschäftigt sind? Geschweige denn herausfinden, was man selbst fühlen soll?

Darum geht es letztendlich in „Kurt“, um Lenas Umgang mit der Trauer der anderen. Die ist so raumgreifend und beherrscht den Alltag so stark, dass Lena kaum die Kraft und Zeit bleibt herauszufinden, was sie eigentlich selbst fühlt. Plötzlich ist das mit dem Trösten nicht mehr so einfach wie damals, als der kleine Kurt mit seinem Wackelzahn ankam und fürchtete, es würde kein neuer nachwachsen. Außerdem stellt sich die Frage, ob Trost hier überhaupt das angebrachte Mittel ist. Ob das nicht so ist, als würde man versuchen, viel zu großen Schmerz mit einem Pflaster aufs Knie zu heilen.

Entsprechend maßt Sarah Kuttner sich gar nicht an, den Verlust eines Kindes in seiner vollen Dimension erforschen zu wollen. Und das macht „Kurt“ nach aller anfänglichen Skepsis zu einer gelungenen Geschichte, in der die Leichtigkeit und der Schmerz sich erstaunlich gut die Waage halten. Auch mit dem Ton haut es am Ende hin, denn Sarah Kuttner lässt ihre Lena reden, wie ihr, wie man so schön sagt, der Schnabel gewachsen ist. Mit der veränderten Lebenssituation tritt eine neue Verzagtheit in ihre Sprache, die einen dann doch im richtigen Maß zu berühren weiß.

Schließlich fragt man sich sogar, ob diese Skepsis, die man zu Anfang hatte, nicht vielleicht ein bewusst eingesetztes Stilmittel ist. Und selbst wenn es sich nur um eine persönliche Wahrnehmung handelt, ist „Kurt“ auf jeden Fall ein Roman geworden, der einen noch lang nach der Lektüre in vielerlei Hinsicht beschäftigt. Der einen sogar dazu anregt, seine eigene Wahrnehmung von Trauer und Trost zu überdenken. Das muss man erst einmal hinkriegen. In diesem Sinne: Hut ab, Frau Kuttner.

Info: „Kurt“ von Sarah Kuttner ist im Fischer Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. 

Gelesen von: Gabi Rudolph

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