„Hab keine Angst“, sagt Faye Andresen zu ihrem Sohn Samuel, bevor sie mit einem Koffer ins Auto steigt und ihn und ihren Ehemann verlässt. Aber die Welt in der wir leben ist nicht dafür gemacht, keine Angst zu haben, sie ist voller Gefahren, voller Geister die uns jagen, voller Dämonen die uns heimsuchen. Das dämmert damals dem elfjährigen Samuel schon, der von diesem Morgen an ohne eine Mutter aufwachsen muss und die ihm, in den elf Jahren die er mit ihr verbracht hat, nicht mehr als eine Fremde geblieben ist. Und bis ins Erwachsenenalter hat sich an diesem Gefühl nicht viel verändert.
Im Jahr ist 2011 ist Samuel Professor für englische Literatur an einem kleinen College außerhalb von Chicago. Eigentlich wollte er Schriftsteller werden, so wie er es damals seiner Mutter gesagt hat, kurz bevor sie ging und sie ihm versprach, sie werde alles lesen was er schreiben wird. Tatsächlich hat Samuel einst auch als vielversprechender Nachwuchsautor einen hohen Vorschuss für seinen ersten Roman kassiert, den er aber nie geschrieben hat. Stattdessen spielt er in seiner freien (und auch in seiner nicht so offiziell freien) Zeit lieber „Elfscape“, ein Virtual Reality Computerspiel, in dem er zusammen mit anderen Gamern gegen Orks und Trolle kämpft. Aber dann droht sein Verleger plötzlich, den ausgezahlten Vorschuss wieder einzuklagen und zeitgleich taucht auch noch seine Mutter wieder auf der Bildfläche auf: sie hat einen Gouverneur bei einem öffentlichen Auftritt mit Steinen beworfen. Samuel steht in seinem Leben vor entscheidenden Veränderungen und stellt fest, dass seine einzige Chance, sowohl existentiell als auch emotional, ist, die wahre Geschichte seiner Mutter zu erfahren.
Der US-Amerikanische Autor Nathan Hill schickt in seinem frisch erschienenen Debütroman „Geister“ seinen Protagonisten auf eine Reise der Wahrheit und die ist so, wie die Wahrheit nunmal ist: mal vergnüglich, mal unterhaltsam, oft unangenehm, noch öfter schmerzhaft. Und auf dieser muss Samuel nicht nur sein Verhältnis zu seiner Mutter neu sortieren, sondern sich noch mit jeder Menge anderer Geister rumschlagen: mit seinem schweigsamen Vater, der sich lieber weiter mit der Entwicklung von Tiefkühlkost beschäftigen möchte als zur Erhellung der Vergangenheit beizutragen, seinem traumatisierten Jugendfreund Bishop, dessen Zwillingsschwester Bethany, die nebenbei auch noch seine große Liebe ist, mit einer ihre eigenen Interessen rigoros verfolgenden Englischstudentin, einem rachsüchtigen Richter und nicht zuletzt seinem blutrünstigen Verleger, der die Wiedervereinigung von Mutter und Sohn möglichst gewinnbringend ausschlachten möchte. Schützenhilfe bekommt Samuel dabei von einem Kumpel aus der virtuellen Elfenwelt, der wiederum mit seinen ganz eigenen Geistern zu tun hat. Und am Ende ist es die Mutter selbst, die rätselhafte Faye, die sich überhaupt erst einmal selber verstehen muss, um am Ende Licht in Samuels Dunkel zu bringen.
Nathan Hill ist einer dieser Erzähler, der über Seiten hinweg Fäden auslegt, von denen viele wie zufällig hin geworfen oder mühelos aus dem Handgelenk geschüttelt wirken. Aber nichts in seiner Geschichte erweist sich als beliebig, jede Figur, jeder Handlungsstrang wird am Ende seiner Bestimmung zugeführt. Neben den vielen liebevoll erdachten Einzelschicksalen der Figuren, die er durch seine Geisterbahn fahren lässt, spannt er mit erzählerischer Leichtigkeit einen zeitgeschichtlichen Bogen von den Studentenprotesten der 68er Jahre bis zur Occupy Wallstreet Bewegung in 2011. Und als wäre das noch nicht genug, erweist sich „Geister“ am Ende als eines dieser seltenen fiktionalen Bücher, die einem das Gefühl geben, fürs Leben etwas gelernt zu haben. Über den Umgang mit den Menschen, die einem am nächsten stehen und die man deshalb oft am stärksten verletzt, darüber wie wichtig verzeihen ist und wie ungelöste Fragen es einem erschweren können, ein erfülltes Leben zu führen.
Als Kind liest Samuel am liebsten die „Wähle-dein-eigenes-Abenteuer“ Bücher, Geschichten in denen man eine Entscheidung fällen kann und demnach entweder auf die eine oder die andere Seite weiter blättert. Manchmal wünscht er sich, das Leben wäre genau so und man könne zurückblättern und sich nachträglich für die andere Abzweigung entscheiden. Oder es wäre so klar strukturiert und durchschaubar wie die virtuelle Welt von „Elfscape“, in der die Menschen die einem begegnen entweder Feinde, Hindernisse, Rätsel oder Fallen sind. Letztendlich muss er lernen anzunehmen, dass die wichtigsten Entscheidungen im Leben meist nicht rückgängig gemacht werden können und dass manche von ihnen sich nunmal als falsch erweisen werden, aber auch dass man Menschen losgelöst von ihren Entscheidungen trotzdem lieben kann.
Mit „Geister“ hat Nathan Hill ein Debüt geschaffen, das ihn mühelos in die Riege großer zeitgenössischer, amerikanischer Autoren katapultiert – er wird nicht umsonst gerne in einem Atemzug mit John Irving genannt. Und man fragt sich wirklich was einen noch erwartet von einem Autor, der bereits in sein erstes Werk so viel literarisches Können, Weisheit, Verstand und Herzblut gesteckt hat.
Info: Nathan Hill ist 38 und lebt in Chicago und St. Paul, Minnesota, wo er an der University of St Thomas Englische Literatur unterrichtet. „Geister“ ist nach einer Reihe erschienener Erzählungen sein Debütroman und wurde bereits in 20 Sprachen übersetzt. Er ist bei uns im Piper Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden.
Nathan Hill ist an folgenden Terminen zu Lesungen in Deutschland:
07.11.2016 München, Buchhandlung Lehmkuhl
08.11.2016 Berlin, Georg Büchner Buchladen
09.11.2016 Hamburg, Amerikazentrum