Gelesen: Mick Kitson „Sal“

Da soll nochmal einer sagen, dass die Generation YouTube nichts Vernünftiges lernt. Heutzutage gibt es ja YouTube Tutorials und Lifehack-Videos für jede Lebenslage. Der moderne Jugendliche kann jederzeit herausfinden, wie man aus Klopapier Lockenwickler bastelt oder Kosmetik aus Dingen anrührt, die man zwischen Bad, Küche und Kinderzimmer in jeder Wohnung findet. Sal, die Hauptfigur aus Mick Kitsons gleichnamigem Debütroman, hat sich über das Internet, und vor allem über YouTube, aber ganz anderes Wissen angeeignet. 

Sal ist 13 Jahre alt und weiß, wie man aus einer Plane, etwas Seil, Ästen und Zweigen eine passable Hütte baut und wie man eine Feuerstelle so platziert und schützt, dass das Feuer möglichst nicht ausgeht und der Rauch dabei nicht in die Hütte zieht. Natürlich weiß sie, wie man ohne Streichhölzer Feuer macht. Aber auch wie man Kaninchen mit Drahtschlingen fängt, wie man sie häutet und das Fell auf einen Rahmen zieht und dass man eine Mischung aus Pipi und Asche benützten kann, um es zu gerben. In der Theorie hat Sal sich ein Jahr lang für das Überleben in der Wildnis gerüstet. Weil sie wußte, dass irgendwann in ihrem Leben der Punkt kommen würde, an dem sie aus ihrem derzeitigen Leben verschwinden würde müssen. Nämlich bevor Robert, der Freund ihrer Mutter, anfängt mit ihrer drei Jahre jüngeren Schwester Peppa das zu tun, was er im Moment noch mit Sal tut, wenn er nachts zu ihr ins Zimmer kommt. 

„Sal“ ist die Geschichte von zwei kindlichen Aussteigerinnen, die Zuflucht in der Wildnis eines schottischen Nationalparks suchen, weil sie dem System, das sie eigentlich beschützen sollte, nicht vertrauen. Vor ihrem Verschwinden lebten beiden Schwestern  zusammen mit ihrer depressiven, alkoholkranken Mutter und deren kriminellen Freund Robert. Schon immer war es Sal, die die meiste Energie darauf verwendet hat, dieses destruktive Gefüge so familienähnlich wie möglich am Laufen zu halten. Die Flucht nach vorne, in die Arme der öffentlichen Instanzen kommt für die Mädchen nicht in Frage, denn die Angst ist groß, beim Übergang in Pflegefamilien voneinander getrennt zu werden. Sal, klug und findig wie sie ist (obwohl sie in der Schule in eine Förderklasse versetzt wurde), hat den Ausstieg präzise vorbereitet. Mithilfe von Roberts geklauten Kreditkarten legt sie die nötige Ausrüstung zu, auf YouTube studiert sie aufmerksam alles an Videos, was sie zum Thema Survival Training findet. Dass die Mädchen allen Grund haben zu verschwinden ahnt man früh und erfährt man schmerzhaft nach und nach.

Fast schon märchenhaft mutet die Erzählung von „Sal“ an. Wie eine moderne Version von Ronja Räubertochter streifen die beiden Mädchen durch die Wälder und bestreiten mutig ihr Leben. Gleichzeitig besticht die Geschichte durch ihren gut durchdachten Realismus. Dass Sal es tatsächlich geschafft hat sich all dieses Wissen anzueignen wirkt genauso überzeugend wie die Momente, in denen sie trotz aller Selbständigkeit an ihre Grenzen stößt. Unterstützt wird der Realismus auch dadurch, dass Mick Kitson Sal selbst in ihren eigenen Worten erzählen lässt. Den Ton der 13 jährigen, ihre Mischung aus minutiösem Wissen und langen, manchmal fast atemlosen Sätzen trifft er nahezu perfekt. Zusätzlich bindet die Ich-Perspektive einen als Erzähler noch stärker an die Protagonistinnen. Es ist unglaublich rührend, mit wieviel Optimismus und Enthusiasmus Sals Schwester Peppa sich auf das Abenteuer einlässt, voll unerschütterlichem Glauben in die große Schwester. Und auch Sals Motivation ist in erster Linie immer Peppas Schutz. Ganz wunderbar beschreibt Mick Kitson, wie die beiden Mädchen auf die wilde schottische Landschaft treffen, wie sie sich in ihr versteckt halten und sie sich zunutze machen, wie sie Schutz und Gefahr gleichermaßen ist. 

Mick Kitson arbeitete nach seinem Englischstudium ursprünglich als Journalist und wurde dann Englischlehrer. Das erklärt vielleicht, warum sein Debütroman sich wie etwas liest, das man sich für junge Leute auf dem Lehrplan wünschen würde – lehrreich, einfühlsam und ganz nebenbei auch noch furchtbar spannend.

„Sal“ von Mick Kitson ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier.

Gelesen von: Gabi Rudolph

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