Gelesen: Kate Tempest „Worauf du dich verlassen kannst“

Kate Tempest Worauf du dich verlassen kannstWürde Kate Tempest sich Visitenkarten drucken lassen, so richtig schön spießig mit der Berufsbezeichnung unter dem Namen, die zweite Zeile wäre länger als die erste. Die 30 Jahre alte Britin ist Musikerin, Rapperin, Spoken Word Künstlerin, Lyrikerin, Dramatikerin, Schriftstellerin. Okay, dieser Überfluss an Talenten und Tätigkeiten würde auf einer Visitenkarte vielleicht ganz schön angeberisch daher kommen. Und das steht schon wieder im ziemlichen Gegensatz zu dem, wie Kate Tempest als Künstlerin daher kommt. Mit ihren blonden Locken und ihrem unaufgeregten Style wirkt sie für eine Hip Hop Musikerin eher bodenständig. Wichtig ist das, was Kate Tempest zu sagen hat.
Kate Tempest gehört zu den Künstlerinnen, die nicht umhin können, die sozialen und politischen Missstände der aktuellen Zeit aufzuarbeiten. Manchmal wütend, anprangernd, manchmal nachdenklich, reflektierend. „Europe Is Lost“ heißt die neue Single aus ihrem aktuellem Album „Let Them Eat Chaos“. Darin sinniert sie über die Abgestumpftheit, die Verwundbarkeit unserer Gesellschaft, unseres Planeten. „Here in the land where nobody gives a fuck“. „Let Them Eat Chaos“ ist ein politisches Album, aber Tempests Texte sind auch immer persönlich, sie erfindet Charaktere, denen sie Leben einhaucht, ihnen Geschichten auf den Leib schreibt. Die Figuren, die sie für ihr erstes Album „Everybody Down“ erfand, ließen ihr keine Ruhe. Wie sie selbst von sich sagt, arbeitet sie eigentlich ständig. Und so schrieb sie, auf Tour, unterwegs im Bus, gleich noch ihren ersten Roman.

In „Worauf du dich verlassen kannst“ begegnen sich Becky, Harry und Pete. Becky ist Tänzerin, wird hauptsächlich für Musikvideos gebucht, träumt aber immer noch davon, in einer Kompanie zu tanzen, auch wenn die Zeit ihr dafür, der gängigen Berufsauffassung nach, gnadenlos davon läuft. Ihr Geld verdient sie als erotische Masseuse. Harry ist ein verschlossener Tomboy, sie vertickt Drogen in zahlungskräftigen Kreisen und träumt davon, genug Geld beiseite zu legen, um mit ihrem Kumpel Leon zusammen ein eigenes Lokal zu eröffnen. Pete hat Politwissenschaften studiert und ist arbeitslos. Er scheitert daran, eine Arbeit zu finden, der er sich wirklich vorstellen kann nachzugehen. Pete und Harry sind Geschwister, beide begegnen Becky getrennt voneinander und verlieben sich sofort in sie. Pete und Becky werden ein Paar, aber ihre Beziehung ist unerfüllt, ein anstrengender Kampf um Befriedigung und Anerkennung. Harry und Becky verlieren sich aus den Augen, aber als sie sich wieder begegnen, ist die Anziehung sofort wieder da.
Die meiste Zeit konzentriert Kate Tempest sich darauf, die persönlichen Lebensnöte ihrer Protagonisten nachzuzeichnen. Das tut sie sehr feinfühlig, mit viel Empathie und Liebe zum charakterlichen Detail. Insgesamt fällt an „Worauf du dich verlassen kannst“ auf, was auch Tempests Musik auszeichnet: neben der Aussage kommt der Unterhaltungswille nie zu kurz. Ihre Raps unterlegt sie mit tanzbaren Beats und eingängigen Melodien. Ihre Ernsthaftigkeit trifft angenehm auf ihren anspruchsvollen aber gleichzeitig unbeschwerten Sound. Ihre Prosasprache ist nahezu beiläufig poetisch. Man merkt es kaum und saugt trotzdem auf, wie wunderschön sie sich ausdrückt. Und weil sie auch als Autorin unterhalten will, werden Becky, Harry und Leon am Ende in einen schief gegangenen Drogendeal und einen Raub verwickelt. Da wird es dann noch richtig unerwartet spannend.
„Worauf du dich verlassen kannst“ ist insgesamt weniger politisch geworden als man hätte erwarten können. Manch einer kreidet das Kate Tempest auch an. Die gesellschaftlichen und politischen Umstände in ihrer Heimat London schwingen immer mit, aber es geht insgesamt mehr um die persönlichen Auseinandersetzung jedes einzelnen. Die Frage ist aber , wie weit man das heutzutage überhaupt trennen kann. Letztendlich stellt jedes Individuum die Weichen unserer Gesellschaft, inklusive aller Päckchen, die es zu tragen hat. Kate Tempest scheint es einfach zu lieben, diesen Individuen eine Stimme zu verleihen. Bei aller Ungewissheit heutzutage, dass man von ihr als Künstlerin noch einiges in Zukunft erwarten kann, darauf kann man sich sicher verlassen.

Info: „Worauf du dich verlassen kannst“ von Kate Tempest ist, in einer übrigens sehr schön gebundenen Ausgabe, 2016 in deutscher Übersetzung im Rowohlt Verlag erschienen und kann hier käufliche erworben werden. 

Gelesen von: Gabi Rudolph

www.rowohlt.de