Eine Prostituierte ist ermordet worden, sie liegt in einem Container am Stadtrand von Istanbul. Zehn Minuten bleiben ihr, bevor ihr Gehirn sich endgültig abschaltet, in denen sie realisiert dass ihr irdisches Leben vorbei ist und sie dieses noch einmal Revue passieren lässt. So erfahren wir, wie aus Leyla Kafife (die Sittsame) Kamile (die Vollkommene), geboren in der Provinz Van, Tequila Leila wurde, die als Prostituierte in einem Bordell in Istanbul arbeitete und ihr Ende in einem Müllcontainer fand. Eine Frau, die die Erwartungen, die ihre Familie in sie setzten nie erfüllen konnte und trotz aller Widrigkeiten stets versuchte, ein würdevolles Leben zu führen.
Geboren wird Leila als Mutter von Binnaz, die mit nicht ganz 16 Jahren als Zweitfrau in die Ehe von Harun und Suzan kam, als sich abzeichnete, dass Suzan, langsam auf die 40 zugehend, wahrscheinlich keine eigenen Kinder mehr bekommen würde. Nach mehreren Fehlgeburten bringt sie Leila zur Welt, die Harun aber beschließt seiner Erstfrau zum Geschenk zu machen, da Binnaz jung genug ist, noch weitere Kinder zu bekommen. So wächst Leila in dem Glauben auf, Suzan sei ihre Mutter und Binnaz die weltferne, verhuschte, zu Depressionen neigende Tante. Harun hofft auf noch mehr Kinder, denn eigentlich wünscht er sich vier Söhne. Tatsächlich wird, als Leila sieben Jahre alt ist, Tarkan geboren. Aber Tarkan ist ein schwächliches Kind, der, wie sich später herausstellt, mit Down-Syndrom geboren wurde. Harun sieht die Krankheit seines Sohnes als Strafe Gottes an und flüchtet sich immer mehr in seinen strengen Glauben.
Währenddessen wächst Leila zu einem rebellischen Teenager heran, als der sie immer weniger in das Weltbild ihres Vaters passt. Aber Leila weiß schon in frühen Jahren, dass sie kein normales, einer türkischen Frau vorbestimmtes Leben führen wird, denn sie ist keine Jungfrau mehr. Und da sie weiß, dass ihr Vater nie für sie, sondern immer für den Onkel, der daran Schuld ist Partei ergreifen wird, tritt sie schließlich die Flucht nach Istanbul an. Vom Busbahnhof der türkischen Metropole aus ist der Weg in die Prostitution für eine alleinstehende junge Frau ein erschreckend kurzer.
Es ist ein deprimierendes, oftmals schockierendes Bild, das Elif Shafak in ihrem neuen Roman „Unerhörte Stimmen“ von Frauen zeichnet, die nicht in die gängigen Schemata der türkischen Gesellschaft passen. Jenen Maßstäben nach sind es die unerhörten Stimmen, denen sie Gehör verleiht, den Frauen, die am Rande der Gesellschaft stehen und die trotzdem versuchen, einen Funken Glück für sich zu finden. Bei allem Leid, das Leila widerfährt, ist sie am Ende zumindest nicht allein. Fünf Freunde hat sie, die alle ein Teil ihrer Geschichte sind und von denen jede*r seine*ihre eigene Geschichte hat: ihr Jugendfreund Sabotage Sinan, die Transsexuelle Nostalgie Nalan, die aus Somalia geflüchtete Jamila, die kleinwüchsige Wahrsagerin Zaynab 122 und die Barsängerin Hollywood Humeyra. Sie bilden eine, wie Zaynab 122 es nennt Wasserfamilie, innerhalb derer sie sich, die sie alle von ihrer Blutfamilie verlassen wurden, gegenseitig auffangen. Elif Shafak lässt sie alle zu Wort kommen, auf ihre offene, empathische Weise, ohne Wertung und moralischen Fingerzeig, aber auch ohne Bitterkeit. Sie alle mussten auf ihre Weise die Härte des Lebens erfahren und versuchen, nicht an ihm zu scheitern. Dass nun ausgerechnet Leila die erste der sechsen ist die gehen muss, ist ein großer Schock für die Truppe.
Neben dem für Elif Shafak typischen mitreißenden Erzählstil ist auch wieder einmal die Struktur von „Unerhörte Stimmen“ spannend. Im ersten Teil, „Geist“, erfahren wir die Lebensgeschichte von Leila und ihren Freundinnen, was so einnehmend geschieht, dass man sich fast wundert, als der zweite Teil, „Körper“, eine andere Richtung einschlägt. Die fünf Freunde kämpfen hier dafür, als nicht blutsverwandte Angehörige in ihrer Trauer um Leila anerkannt und respektiert zu werden. Denn Leila soll, wie es sich für eine ermordete Prostituierte gehört, anonym auf dem Friedhof der Verdammten bestattet werden. Und in „Seele“ geht es letztendlich um die Befreiung eben dieser.
Elif Shafak beweist mit „Unerhörte Stimmen“ mal wieder, dass sie nicht umsonst eine der bekanntesten und wichtigsten türkischen Schriftstellerinnen ihrer Generation ist. Denn sie kann nicht nur unfassbar gut erzählen, sie weiß auch stets auf die ihr eigene, sensible Art auf Missstände hinzuweisen ohne diese nur stumpf anzuprangern. In allem was sie schreibt, schwingt auch immer sehr viel Liebe mit – für Frauen auf dem Weg nach Befreiung und Anerkennung, aber auch für ihre Heimat Türkei und wieder einmal besonders für die Stadt Istanbul. Eine Hassliebe, die mit jeder Seite greifbarer, erlebter wird. Es ist wichtig und tröstlich, dass es Schriftstellerinnen wie Elif Shafak gibt. Denn diese unerhörten Stimmen hallen noch lange nach.
„Unerhörte Stimmen“ von Elif Shafak ist in Deutschland bei Kein & Aber erschienen und kann hier käuflich erworben werden.
Gelesen von: Gabi Rudolph