Der Streaming Dienst Netflix lenkte jüngst mit seiner Eigenproduktion „To The Bone“ das Interesse auf das Thema Magersucht bei jungen Menschen. In dem amerikanischen Spielfilm folgen wir der essgestörten Hauptdarstellerin (die in schlabbernden Strickpullis und mit dunklen Kajalrändern ganz schön cool wirkt) durch eine alternative Therapie bei einem gut aussehenden Arzt, mit dünnen, gut aussehenden Gleichgesinnten in einem gemütlichen Gruppenheim im Farmstil. Nahrung zu sich nehmen sehen wir sie dabei nie, weder freiwillig noch unfreiwillig. Trotzdem gelingt es der Heldin in diesem seichten Coming of Age Drama (das im Vorfeld für so viel Aufregung sorgte, dass der Anfang des Films mit einer Trigger Warnung versehen wurde) ohne jegliche Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme einen nächtlichen Marsch durch die Wüste zu überstehen, ja sie schafft es im Anschluss offensichtlich sogar noch, den Bus zurück nach Hause zu nehmen und dort die Therapie leutselig fortzusetzen.
„To The Bone“ ist ein netter Unterhaltungsfilm und damit in seiner Nettigkeit schon wieder ärgerlich. Nicht eine einzige Sequenz zeigt sich derart abschreckend, wie das Thema es verdient hätte. Das einzige Mädchen in der Therapieeinrichtung, das über eine Magensonde zwangsernährt wird, trägt lustige Plüschmützen. Ein magersüchtiger Balletttänzer gibt in einer Regeninstallation den Michael Jackson. Alle sind irgendwie niedlich, hip oder ziemlich cool. Wirkliche Qualen scheint hier keiner zu durchleiden. Magersucht ist ein schwieriges, komplexes Thema, bei dessen künstlerischer Bearbeitung man in eine Unmenge von Fallen tappen kann. „To The Bone“ lässt so ziemlich keine einzige aus.
Wer sich ein realistischeres Bild dieser schwer zu begreifenden Krankheit machen möchte, dem sei der Roman „Tage ohne Hunger“ ans Herz gelegt. Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan schreibt darin über eine junge Frau, der die Sucht nach dem Nahrungsentzug fast das Leben kostet. Sie begibt sich erst freiwillig in Therapie, als sie unter 40 Kilo wiegt, kaum mehr laufen und nur noch unter Schmerzen sitzen kann. Unter mehreren Schichten Kleidung verbringt sie die Tage vor der Heizung sitzend, unfähig Wärme zu empfinden. Ein Arzt gibt ihr das Gefühl, ihr helfen zu können, zu ihm fasst sie Vertrauen, begibt sich in seine Obhut. Schon auf den ersten Seiten erfahren wir: dieser Kontakt wird ihr das Leben retten.
Delphine de Vigan ist eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Frankreichs. Ihr Debütroman „Jours sans faim“ erschien 2001 unter dem Pseudonym Lou Delvig und ist, aller Wahrscheinlichkeit nach, autobiografisch inspiriert. Das liegt bei de Vigan irgendwie auf der Hand, da sich ihre Werke eigentlich immer am eigenen Leben orientieren. Den Durchbruch erlangte sie mit ihrem autobiografischen Roman „Das Lächeln meiner Mutter“, der Nachfolger „Nach einer wahren Geschichte“ setzt nach dem Erscheinen dieses an und verwebt geschickt Realität und Fiktion. Jetzt ist „Tage ohne Hunger“ erstmals in deutscher Übersetzung unter ihrem richtigen Namen erschienen. Nicht nur die künstlerische Herangehensweise sondern vor allem die inhaltliche Intensität lässt darauf schließen, dass de Vigan weiß, wovon sie spricht. Selten wurde das Thema Essstörung so glaubhaft und intensiv thematisiert, und das auf gerade mal 176 Seiten.
Die Geschichte der magersüchtigen Laure ist straff geschrieben, kein Wort wirkt hier zu viel aber auch keines zu wenig. Es ist der für de Vigan typische Stil zwischen Nüchternheit und leiser Poesie, der dieser Erzählung so viel Kraft gibt. Ohne feste Regeln wechselt sie Zeit- und Erzählformen, sodass alles wie ein fließender, intuitiver Gedankenstrom wirkt. Dadurch scheint Laures Geschichte nicht wie ein auf pures Drama setzender Tatsachenbericht. Der Kampf, den die junge Frau durchzustehen hat, ist trotzdem schmerzhaft greifbar. Denn es geht bei Magersucht nicht nur (zumindest ab einem gewissen Punkt nicht mehr) um den Wunsch nach Gewichtsverlust. Ein wichtiger Motor ist das Bedürfnis nach Kontrolle über den eigenen Körper. Laure hat einen starken Willen, der größte, schwerste Schritt ist für sie, diese Kontrolle abzugeben. Sie ist an einem Punkt, an dem es mit der freiwilligen Nahrungsaufnahme nicht mehr getan ist, die künstliche Ernährung ist unabdingbar. Dies zuzulassen erfordert eine radikale Abgabe der Kontrolle. Jedes Kilo, das sich auf diese Weise ihres Körpers bemächtigt, tut weh. Der Wunsch, geheilt zu werden ist schwer mit dem Bedürfnis, alleiniger Herr über den eigenen Körper zu sein, zu vereinbaren.
Nach und nach offenbart sich Laures Familiengeschichte, ihr Leben mit einer depressiven Mutter und einem cholerischen Vater. Die Hintergründe ihrer Figur wirken dabei nie wie mühsam herangezogene Erklärungsversuche für die Krankheit. Es ist das Leben an sich, an dem Laure scheitert, ein Mosaik aus vielen verschiedenen Teilen, die sie zu dem gemacht haben was sie ist, besessen von der Kontrolle über den eigenen Körper, dabei mehr und mehr isoliert von ihrem früheren Leben. Schritt für Schritt öffnet sie sich für eine neue Perspektive, aber es ist ein langer Weg, an dessem Ende Delphine de Vigan zum Glück Hoffnung aufblitzen lässt.
Wenn man Delphine de Vigans Werk kennt und nun mit 16 Jahren Verspätung ihr ursprüngliches Debüt liest, ist es erstaunlich, wie klar, charakteristisch und weit entwickelt ihr Stil schon damals war. Sie ist das beste Beispiel dafür, dass unbeschönigter Realismus und künstlerische Umsetzung sich nicht widersprechen müssen. Und der erhobene Zeigefinger bleibt dabei stets ganz tief in der Hosentasche. „To The Bone“ muss man nicht gucken, Delphine de Vigan zu lesen erweitert immer den Horizont, in diesem Fall ganz besonders.
Info: Delphine de Vigans Debütroman „Jours sans faim“ ist 16 Jahre nach seinem Erscheinen nun erstmals in deutscher Übersetzung erhältlich. „Tage ohne Hunger“ ist im Dumont Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden.