Théo ist zwölf Jahre alt, er ist ein durchschnittlicher bis guter Schüler. Als Scheidungskind lebt er im wöchentlichen Wechsel bei seiner Mutter und seinem Vater. Jeden Freitag bewältigt er allein den Umzug von einem Haushalt in den anderen, jedes Mal stellt der Wechsel einen Bruch zwischen ihm und seiner Mutter dar. Wenn er von seinem Vater zurück kehrt ist sie voller Ablehnung und Mißtrauen, sie schickt ihn als erstes Duschen, um die letzten Spuren des feindlichen Lagers zu beseitigen. Darüber, wie das Leben beim Vater ist, wird konsequent geschwiegen. Sie fragt nicht, und Théo käme nie auf die Idee, von selbst zu erzählen. Denn dann müsste er berichten, dass sein Vater seine Arbeit verloren hat, dass er an den meisten Tagen kaum das Bett verlässt, dass Théo es ist, der die elementaren Dinge wie aufräumen, einkaufen und Essen machen übernimmt. Und dass er aber selbst immer weniger die Kraft dazu hat.
Théos Lehrerin Hélène hat das Gefühl, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmt. Er ist still, blass und müde, der Schulschwester gegenüber hat er angegeben, dass er nachts oft nicht schlafen kann. Hélène, die als Kind selbst Opfer häuslicher Gewalt war, ist sensibilisiert, aber da Théo sich bis auf die Müdigkeit eher unauffällig verhält und es sich nur um einen Verdacht, ein Gefühl handelt, ist es schwer für sie, etwas zu unternehmen, ohne die Grenzen ihrer Zuständigkeit zu überschreiten. Immerhin hat Théo einen Freund, Mathis, mit dem er ständig zusammen steckt. Aber auch Mathis’ Mutter Cécile ist dem Jungen gegenüber argwöhnisch. Etwas scheint mit ihm nicht zu stimmen.
Was keiner der Erwachsenen weiß: Théo und Mathis haben ein Spiel begonnen, das sich zu einem regelmäßigen Ritual entwickelt. Sie haben ein Versteck im Schulhaus, in dem sie sich in den Freistunden treffen, um Alkohol zu trinken. Erst nur schluckweise, kleine Flaschen Wodka und Rum, die sie in einem Lebensmittelladen kaufen, deren Besitzer keine Fragen stellt. Das Geld dafür klaut Mathis von seiner Mutter, sie wissen genau wie weit sie gehen können und welcher Kaugummi den Geruch am besten überdeckt. Zumindest am Anfang. Denn Théo möchte weiter gehen als Mathis. Er hat gelesen, dass man einen Zustand erreichen kann, in dem der Alkohol alles betäubt. In dem die absolute Ruhe herrscht. Und dort möchte er hin.
Delphin de Vigan ist in ihrer Heimat Frankreich seit dem Erscheinen ihres autobiografischen Romans „Das Lächeln meiner Mutter“ ein Literatursuperstar. Sie erzählt darin vom Selbstmord ihrer Mutter und begibt sich auf Spurensuche. In dem darauffolgenden Werk „Nach einer wahren Geschichte“ lässt sie die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen, indem sie über sich und die Zeit nach dem Erscheinen jenes Romanes schreibt. Letztes Jahr erschien bei uns in Deutschland erstmals ihr Debütroman „Tage ohne Hunger“, eine fiktive Geschichte, in die Delphine de Vigan aber ihre eigenen Erfahrungen vom Kampf mit der Magersucht einfließen lässt. Aber auch wenn sie rein fiktiv erzählt, wie in ihrem neuen Roman „Loyalitäten“, hat Delphine de Vigan ein scharfes Auge für die Realität. Egal was sie erzählt, man ist immer ganz nah dran, an der Geschichte und an den Figuren.
Für „Loyalitäten“ hat sie verschiedene Erzählperspektiven gewählt. Die Lehrerin Hélène, Mathis’ Mutter Céline und die beiden Jungs Théo und Mathis berichten abwechselnd ihren Teil der Geschichte. Mühelos verleiht Delphine de Vigan den unterschiedlichen Figuren ihre Stimme, nahezu virtuos. Dabei bedient sie sich noch eines zusätzlichen Clous, der dezent aber überaus clever ist: während sie beide Frauen unmittelbar in der Ich-Perspektive erzählen lässt, wird von Théo und Mathis in der dritten Person berichtet. So als wolle sie sich nicht anmaßen, in vollem Umfang zu begreifen, was in den beiden vorgeht. Gleichzeitig wird Théos Schmerz, den er versucht zu betäuben so greifbar, dass es schwer zu ertragen ist.
Auf gerade etwas mehr als 170 Seiten kreiert Delphine de Vigan eine Erzählung von so tiefer, emotionaler Dichte, wie man es in der Kürze eigentlich kaum schaffen kann. Jede der Figuren ist auf den Punkt getroffen, jede hat ihre eigene Geschichte, ihr eigenes Päckchen zu tragen, nicht nur Théo und Mathis, sondern auch die beiden Frauen. Während Hélène von ihrer eigenen grausamen Kindheit eingeholt wird, muss Céline feststellen, das ihr Mann zwei Gesichter hat und das vor ihr verborgene der Welt im Internet präsentiert. Alle vier kämpfen den Kampf mit der Loyalität den Menschen gegenüber, die sie im Herzen tragen, ob sie es wollen oder nicht. Denn diese Loyalität kann schmerzhaft und selbstzerstörerisch, aber auch lebensrettend sein. Dass Théos Eltern dabei stumm bleiben, dass Delphine de Vigan ihnen keine eigene Stimme zugesteht, scheint dabei nur konsequent. Denn sie haben ihre Verbindung zueinander und zu ihrem Sohn längst verloren.
„Loyalitäten“ ist ein schmerzhaftes, kluges und empathisches Buch. Es schafft einen zu überraschen, auch wenn man von Delphine de Vigan bereits das Beste gewohnt ist.
Info: „Loyalitäten“, der neue Roman von Delphine de Vigan ist in deutscher Übersetzung beim DuMont Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Dort gibt es auch eine Leseprobe.
Gelesen von: Gabi Rudolph