Gelesen: Delia Owens „Der Gesang der Flusskrebse“

Es gibt sie offensichtlich tatsächlich, die Dinge für die es nie zu spät ist. Delia Owens ist 70 Jahre alt und hat dieses Jahr ihren ersten Roman veröffentlicht. „Where the Crawdads Sing“ ist seit seinem Erscheinen in den USA zum erfolgreichsten Debütroman des Jahres avanciert. Seit 48 Wochen hält es sich in der renommierten Bestseller Liste der New York Times, mehr als die Hälfte davon auf Nummer eins. Schauspielerin Reese Witherspoon stellte den Roman im letzten Herbst in ihrem Buchclub vor und löste damit einen regelrechten Hype aus.

Dazu muss man sagen, dass Delia Owens literarisch gesehen kein komplett unbeschriebenes Blatt ist. Zusammen mit ihrem inzwischen Ex-Mann Mark Owens veröffentlichte sie drei Bücher über die gemeinsame Zeit des Paares in Afrika, wo sie aus nächster Nähe Löwen, Hyänen und Elefanten studierten. Für ihr „Nature Writing“ wurden die beiden mehrfach ausgezeichnet, alle drei Bücher waren internationale Bestseller. Der Erfolg ihres fiktionalen Debüts ist also nicht wirklich über Nacht passiert, beeindruckend ist er dennoch. Wer sich auf Portalen wie Goodreads tümmelt, kommt um „Where the Crawdads Sing“ nicht herum. Dort gibt es zehntausende von Bewertungen, die meisten davon euphorisch. Nun ist Delia Owens Roman in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der Gesang der Flusskrebse“ auch in Deutschland erschienen. Bei uns ist das nicht so einfach mit den Literaturphänomenen, wahrscheinlich fehlen uns Persönlichkeiten wie Reese Witherspoon, Oprah Winfrey oder Barack Obama, die mit ihren Buchempfehlungen auf einen Schlag Millionen von Menschen erreichen. Dennoch schaffte es „Der Gesang der Flusskrebse“ auch bei uns in die Top 10 der Spiegel Bestsellerliste.

Es ist natürlich nicht verwunderlich, dass die Natur auch in Delia Owens fiktionalem Debüt eine große Rolle spielt. Als Setting hat sie sich die Marschlandschaft der Küste North Carolinas ausgesucht. Es ist wirklich faszinierend, dass es, vor allem in den USA, Landstriche gibt, die mit ihrer Magie allein schon das Zeug zum Hauptdarsteller haben. In jenen verwunschenen Sümpfen beginnt 1950 die Geschichte des Mädchens Kya, das eines Morgens in der verfallenen Hütte, in der sie mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern aufwacht und beobachtet, wie ihre Mutter davongeht. Die Tatsache dass sie einen Koffer und ihre besten Schuhe trägt und dass sie geht ohne noch einmal zurückzublicken, lässt Kya, mit sieben Jahren das jüngste Kind der Familie, bereits ahnen, dass sie nicht mehr zurückkehren wird. Als sich nach und nach die älteren Geschwister ebenfalls verabschieden, bleibt Kya mit dem Vater zurück – und damit im Prinzip auf sich allein gestellt. Denn der Vater trinkt, brüllt und schlägt, oft verschwindet er tagelang, und eines Tages kehrt auch er nicht mehr wieder. Kya lernt früh für sich selbst zu sorgen. Sie sammelt Muscheln, die sie an den Tankwart Jumpin’ verkauft, fängt Fische und bekommt schließlich Unterstützung von den schwarzen Familien im Ort, die von den Weißen segregiert in einer Siedlung leben. Trotz Einsamkeit und zeitweiser Verzweiflung fühlt Kya sich ihrer Heimat tief verbunden und fängt an sie zu studieren. Sie sammelt Federn, Muscheln und Steine und legt über sie und ihre Herkunft detaillierte Aufzeichnungen an.

Schließlich trifft Kya auf Tate, in dem sie in jungen Jahren einen Gleichgesinnten findet und der später zu ihrer ersten großen Liebe wird. Aber Tate lässt sie zurück als er das Städtchen Barkley Cove verlässt, um zu studieren und Meeresbiologe zu werden. Ihm fehlt der Mut, die eigensinnige Kya, die im Ort für vielerlei Gerede sorgt und von allen nur „das Marschmädchen“ genannt wird zum festen Teil seines Lebens zu machen. Aber viele junge Männer hegen ein gewisses Interesse an der Einsiedlerin, unter anderem der Kleinstadtschönling Chase Andrews, dem es mit seinem Charme trotz all ihrer Zurückhaltung schließlich doch gelingt, Kyas Herz zu erobern. Er verspricht sie zu heiraten, aber in der Hochzeitsanzeige, die Kya eines Tages in der Zeitung entdeckt, steht ein anderer Name.

Im Jahr 1969 erschüttert ein Mordfall die beschauliche Gemeinde von Barkley Cove. Der Tote ist ausgerechnet Chase Andrews, der, von einem Turm gestürzt, im Sumpf gefunden wird. Spuren gibt es keine, aber es fehlt eine Kette, die Chase immer um den Hals trug, ein Lederband mit einer Muschel. Chase’ Mutter weiß dass es das Marschmädchen war, das ihm die Kette geschenkt hat und die Bewohner von Barkley Cove sind sich einig, dass damit die Mörderin gefunden sein dürfte.

„Der Gesang der Flusskrebse“ ist ein Roman der Fülle. Natur, Dramatik, eine Liebes- und eine Kriminalgeschichte – alles was das Herz begehrt ist da. Manchmal ist es fast ein wenig zu viel, was hier auf einen einströmt. Delia Owens’ Naturbeschreibungen sind regelrecht magisch und lassen die besondere Landschaft mühelos lebendig werden. Vielleicht liegt es an der Übersetzung, dass an manchen Stellen ihre sonst so klare, kraftvolle Sprache ins Schwülstige abzudriften droht, besonders wenn es um die Liebesgeschichte und die damit verbundenen Dialoge geht. Was die Handlung betrifft hält sie die Spannung problemlos aufrecht. Auch wenn die aufregendsten Passagen in „Der Gesang der Flusskrebse“ nicht unbedingt Teil der Kriminalhandlung sind. Wenn Kya nach und nach feststellen muss, dass sie auf sich allein gestellt ist und wie sie mutig und zäh ihren Überlebenswillen aktiviert, dann entwickelt die Geschichte einen nahezu betörenden Sog. Die Auflösung am Ende hingegen ist nicht besonders überraschend und lässt einen mit dem Gefühl zurück, dass die wahre Stärke von „Der Gesang der Flusskrebse“ nicht in dem liegt was erzählt wird, sondern wie es geschieht. Und in ihrer Erzählleidenschaft, ihrer Liebe zur Natur und ihren Fähigkeiten diese zu beschreiben, macht man Delia Owens so schnell nichts vor.

Info: „Der Gesang der Flusskrebse“ ist in deutscher Übersetzung im Hanser Verlag erschienen. Eine Leseprobe gibt es hier.

Gelesen von: Gabi Rudolph

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