Gelesen: Chloe Benjamin „Die Unsterblichen“

Was wäre, wenn wir das Datum unseres Todes wüssten? Wie würde man sein Leben leben, wenn man auf den Tag genau wüsste, wie lang man zu leben hat? Dieser Frage geht die US-amerikanische Autorin Chloe Benjamin in ihrem Roman „Die Unsterblichen“ auf den Grund und entwickelt darüber hinaus eine Familiengeschichte, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt.
Es beginnt alles mit einem Besuch bei einer Wahrsagerin. Die Geschwister Varya, Daniel, Klara und Simon Gold wachsen im New York der späten Sechziger auf. In den Sommerferien des Jahres 1969 stromern sie durch das Viertel und landen schließlich aus Langeweile und Abenteuerlust bei einer Wahrsagerin, die jedem von ihnen das exakte Datum ihres Todes prophezeit. Dieses Wissen wird auf das Leben der vier einen unterschiedlichen, aber immer schicksalshaften Einfluss haben. Simon, der jüngste, bekommt den frühesten Tod vorausgesagt. Nach dem Tod des Vaters flüchtet er, gerade mal 16 Jahre alt, mit seiner Schwester Klara nach San Francisco. Er hofft, dort seine homosexuellen Neigungen austesten zu können und frei als schwuler Mann zu leben. Er wird Tänzer, erst in Nachtclubs, später beim Ballett, findet die große Liebe und muss feststellen wie schwierig es trotzdem ist, den Verlockungen des zügellosen Lebens in der Schwulenszene von San Francisco zu widerstehen. Klara, eine Grenzgängerin zwischen Fantasie und Realität, träumt von einer Karriere als Zauberkünstlerin. Sie sucht ihr Glück in den Varietés der Stadt und landet mit Mann und Tochter schließlich da wo sie nie hin wollte, in Las Vegas. Die ungezügelte Lebenslust der beiden steht im Kontrast zum eher vernunftorientierten Leben ihrer älteren Geschwister Daniel und Varya. Daniel sucht ein geregeltes Dasein als Ehemann und Arzt bei der Armee. Erst als er von seiner Arbeit wegen einer Fehlentscheidung beurlaubt wird, fängt er an, seinen Lebensentwurf zu überdenken und trifft folgenschwere Entscheidungen. Varya, die Älteste, widmet ihr Leben der Forschung und sucht nach Wegen, das menschliche Leben zu verlängern, in der Arbeit mit Laboraffen und im Selbstversuch. Im fortgeschrittenen Alter zwingt sie eine unerwartete Begegnung sich der Tatsache zu stellen, dass sie dem Leben weitestgehend aus dem Weg gegangen ist.
Chloe Benjamin erzählt die Lebensgeschichten der Geschwister Gold in vier Teilen, einen für jeden der Protagonisten. So wird die Geschichte immer weiter erzählt und erstreckt sich am Ende über vier Jahrzehnte. Jede der einzelnen Episoden und ihre damit verbundene Zeit wird bei ihr ganz natürlich lebendig. Vom heißen Sommer im New York der späten Sechziger, dem Lebensgefühl der ungezügelten Achtziger Jahre in San Francisco, dem wenig glamourösen Leben hinter den Kulissen in Las Vegas bis zur zweifelhaften Arbeit in einem Versuchslabor Anfang unseres Jahrzehnts – alles scheint hier zum Greifen nah, man taucht mühelos in das Leben und die Köpfe der Gold Geschwister ein. Das ist mitreißend aber in seiner Grundatmosphäre auch bedrückend, denn an eins lässt Chloe Benjamin keinen Zweifel: das Wissen über das eigene Todesdatum hat auf das Leben der vier einen entscheidenden Einfluss, und für jeden von ihnen letztendlich einen tragischen. Sei es, dass das verbleibende Leben bis zum Exzess ausgekostet wird oder ob es von Zurückhaltung und Zögern bestimmt ist – wirklich glücklich wird hier keiner. Trotzdem, oder gerade deshalb, trifft man in „Die Unsterblichen“ auf geballtes Leben und auf Charaktere, mit denen man sich mühelos verbindet, auch wenn sie einem nicht alle gleichermaßen sympathisch sind.
„Die Unsterblichen“ ist Chloe Benjamins zweiter Roman, er ist bereits in 28 Ländern erschienen und tummelt sich dieses Jahr auf diversen Bestenlisten. Kein Wunder, denn die 29 jährige Autorin erhebt damit eine starke, empathische Erzählstimme. Fun Fact: Chloe Benjamin ist mit dem Schriftsteller Nathan Hill verheiratet, der letztes Jahr mit seinem Debütroman „Geister“ (völlig zu Recht) einen großen Hit landete. Das steht zwar in keinerlei Zusammenhang mit ihrem Schaffen, ist aber zumindest ein bisschen romantisch. Da haben sich offensichtlich zwei gleichgesinnte Seelen gefunden.

Info: „Die Unsterblichen“ von Chloe Benjamin ist im btb Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier

Gelesen von: Gabi Rudolph

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