Mit seinem 1995 erschienenen Roman „Der Vorleser“ gelangte der aus Bielefeld stammende Schriftsteller Bernhard Schlink zu Weltruhm. In über 50 Sprachen wurde die Geschichte um die Beziehung eines jungen Mannes zu einer 21 Jahre älteren Frau vor den Hintergründen der Schrecken des dritten Reichs übersetzt. Selbst Talk-Meisterin Oprah Winfrey outete sich als Fan, in den USA wurde „Der Vorleser“ ein Bestseller und mit Kate Winslet und David Kross in den Hauptrollen verfilmt.
In Bernhard Schlinks neuem Roman „Olga“ taucht das Motiv der Beziehung zwischen jungem Mann und älterer Frau wieder auf, diesmal aber ohne die erotische Komponente, der Altersabstand zwischen der titelgebenden Olga und dem Pfarrerssohn Ferdinand, bei dessen Familie die gehörlose Olga als Näherin tätig ist, ist noch etwas größer. Aber auch das Motiv der Vergangenheitserkundung einer Person, der man sich tief verbunden fühlt, ohne so recht sagen zu können warum, findet sich hier wieder. Nur setzt Schlink diesmal weniger auf die ganz große Dramatik sondern auf die eher leise Erzählung des Schicksals einer Frau, das zum Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und sowohl von unerfüllter Liebe, als auch vom Drang nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung geprägt ist.
Olga ist ein stilles, genügsames Mädchen, das lieber zusieht als in die Geschehnisse um sie herum aktiv einzugreifen. Als beide Eltern kurz nacheinander am Fleckfieber sterben, kommt sie in die Obhut der unnahbaren Großmutter, die sich weniger aus Empathie als aus Pflichtgefühl des Mädchens annimmt und es mit in ein Dorf in Pommern nimmt. Schon hier zeigt sich die Willensstärke des sonst so ruhigen Kindes, als es sich weigert, seinen slawischen Namen aufzugeben. Olga möchte weiter Olga sein.
Es entwickelt sich eine Freundschaft zwischen zwei Außenseitern, die zuerst als Dreieck beginnt. Die Geschwister Herbert und Viktoria, Kinder eines reichen Gutsherren, nehmen Olga in ihren Kreis mit auf. Herbert rennt lieber als dass er geht, schon als Kind sucht er stets die Weite. Als Viktoria das Dorf verlässt um aufs Internat zu gehen, wird die Beziehung zwischen Olga und Herbert enger, aus Freundschaft wird Liebe. Eine Liebe, die ein Leben lang unerfüllt bleiben wird, weil die eifersüchtige Schwester gegen das Paar intrigiert und die Eltern die Beziehung nie als standesgemäß ansehen, aber vor allem weil Herberts Drang nach der Ferne immer stärker wird. Er meldet sich freiwillig zum Militäreinsatz in Deutsch-Südwestafrika, bricht immer wieder zu Reisen in weite Ferne auf, kehrt aber auch immer wieder zu Olga zurück. Diese, und das ist das Schöne an ihrer Figur, leidet zwar unter der Trennung (wie sehr tatsächlich erfährt man erst im dritten Teil, der aus Briefen von Olga an Herbert besteht), weigert sich aber, sich voll in das Schicksal der zurückgelassenen, unehrenhaften Geliebten zu fügen. Sie wird Lehrerin und lernt als solche auf eigenen Beinen zu stehen. Als Herbert eine Expedition in die Arktis plant, ist sie es, die ihm maßgeblich beim Gestalten seiner Vorträge hilft, mit denen er Geldgeber versucht zu gewinnen. Er verspricht, vor Einbruch des Winters zurück zu sein. Letztendlich kehrt er nie zurück, sämtliche Versuche ihn ausfindig zu machen, schlagen fehl.
Natürlich trägt diese Olga, ganz Schlink-esque, ein Geheimnis in sich. Die Puzzlestücke setzt im Erwachsenenalter der Pfarrerssohn Ferdinand zusammen, als er sich auf die Suche nach Olgas postlagernden Briefen begibt. Man kann es erahnen, aber so packend, mit fast Krimi-haftem Bogen wie Schlink schreibt, in seiner schlanken, präzisen Sprache, bleibt die Aufdeckung doch spannend bis zum Schluss. Tatsächlich ist das spannungsgetriebene Tempo streckenweise das einzige Manko des Romans. Vor allem im ersten Teil hat man des öfteren das Gefühl, die Geschichte schreitet zu schnell voran. Noch etwas mehr Detailfreude, ein tieferes Eintauchen in die geschichtlichen Hintergründe und in die Entwicklung der Charaktere hätte der Geschichte gut getan. Der nahezu hypnotischen Kraft, die „Olga“ auf gerade mal knapp 300 Seiten entfaltet, kann man sich dennoch schwer entziehen. Man betrachte es eher als Kompliment an Bernhard Schlinks Erzählkunst: man kann einfach immer noch mehr von ihr vertragen.
Info: Bernhard Schlink wurde für sein Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, sein Roman „Der Vorleser“ erreichte Platz 1 der Bestseller Liste der New York Times. Sein neuer Roman „Olga“ ist, wie sein gesamtes Werk, im Diogenes Verlag erschienen. Eine Leseprobe gibt es hier.
Gelesen von: Gabi Rudolph