Gelesen: Antonella Lattanzi „Noch war es Nacht“

Antonella Lattanzi erzählt in ihrem Debütroman „Noch war es Nacht“ vom dramatischen Ende einer obsessiven Liebe. Was wie ein Familiendrama beginnt, entwickelt sich zu einem Film-Noir artigen Krimi mit Hitchcock-haften Wendungen. Die filmischen Vergleiche fallen einem nicht zufällig ein, denn Antonella Lattanzi ist in ihrer Heimat Italien eine erfolgreiche Drehbuchautorin.
Es ist die Geschichte von Carla und Vito, die sich von Kindesbeinen an kennen, bereits in jungen Jahren ein Liebespaar werden, heiraten und gemeinsam drei Kinder kriegen. Vito war immer der einzige Mann in Carlas Leben, die Liebe ist von Leidenschaft, aber auch von Eifersucht und Gewalt geprägt. Vito schlägt und demütigt Carla, auch immer wieder vor den Kindern. Als die beiden ältesten, Nicola und Rosa fast erwachsen und aus dem Haus sind und Nachzüglerin Mara ein Jahr alt ist, schafft Carla schließlich den Absprung und verlässt Vito. Aber Vito kann die Trennung nicht akzeptieren, immer wieder taucht er in Carlas Leben auf, verfolgt und bedroht sie. Gegenüber den Kindern ist Vito nie handgreiflich geworden, sie lieben ihren Vater, besonders die beiden Großen stecken aber in einem Zwiespalt, da sie oft mit ansehen mussten, wie der Vater die Mutter vor ihren Augen schlug. Zwei Jahre nach der Trennung, Maras dritter Geburtstag steht ins Haus, scheint die Situation sich endlich zu entspannen. Carla gibt Maras Drängen nach und lädt Vito zum gemeinsamen Geburtstagsfest ein, das nicht in ihrer eigenen Wohnung, aber in der ihres Bruders, der im gleichen Haus wohnt, stattfindet. Der Abend verläuft harmonisch wie lange nicht mehr, aber am nächsten Tag ist Vito spurlos verschwunden. Carla und die Kinder starten eine Suchaktion, auch Vitos Schwester Mimma und seine Geliebte Milena suchen verzweifelt nach Vito. Dann wird auf einer Mülldeponie außerhalb Roms eine Leiche gefunden, und plötzlich steht Carla im Mittelpunkt einer Mordermittlung, gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem Psychologen Manuel.
Geschickt verbindet Antonella Lattanzi in „Noch war es Nacht“ krimihafte Spannungselemente mit tief gehender Familienproblematik und der damit einhergehenden Dramatik. Bis zum Schluss bleiben viele Fragen offen, die Geschichte wendet sich ein ums andere mal, und schließlich wird klar: hier geht es nicht wirklich um das klassische „Who dunnit“ und „What happened“. Interessant sind am Ende die Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt. Warum hat Carla so viele Jahre ihres Lebens an Vitos Seite verbracht, obwohl er sie geschlagen hat? Warum vermisst sie ihn, als er schließlich fort ist und empfindet selbst im entscheidenden Moment immer noch so etwas wie Liebe für ihn? Milena, Vitos Geliebte, fragt sich hingehen, warum Vito sie nie geschlagen hat. Vielleicht, weil er sie nie so geliebt hat wie Carla? Antonella Lattanzi lässt die Grenzen zwischen schwarz und weiß zerfließen, sie versucht zwischen den Zeilen zu lesen und Carla nicht nur als das bloße Opfer, Vito als den unumstrittenen Bösewicht darzustellen. Mit „Noch war es Nacht“ ist ihr eine auf vielen Ebenen spannende Geschichte gelungen, die bis zu den letzten Seiten immer wieder mit Wendungen überrascht, ihre Figuren sensibel auslotet und mit der nahezu visuellen Kraft eines Films daher kommt. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei auch die Stadt Rom, die Antonella Lattanzi voller Leidenschaft in all ihren Facetten beschreibt, heiß und staubig genauso wie kalt und düster.
Die Filmrechte für „Noch war es Nacht“ sind bereits verkauft und Antonella Lattanzi schreibt selbst die Drehbuchadaption. Es ist der perfekte Stoff für einen Film, auch wenn man ihn vielleicht auch gar nicht braucht. Antonella Lattanzis Worte haben schon so viel Kraft, dass die Bilder ganz von allein entstehen.

Antonella Lattanzi liest aus „Noch war es Nacht“:

12.09.2018 Frankfurt, Romanfabrik
15.09.2018 Berlin, Internationales Literaturfestival, Literaturhaus Berlin

Info: Antonella Lattanzi wurde 1979 in Bari geboren und studierte Literatur in Rom. Sie arbeitet als Drehbuchautorin für das Kino und ist für ihr Werk mit diversen Preisen ausgezeichnet worden. Ihr Debütroman „Noch war es Nacht“ ist in deutscher Übersetzung im Rowohlt Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier.

Gelesen von: Gabi Rudolph