Gelesen: Andrew Michael Hurley „Loney“

44990235zUm den Gruselfaktor einer Geschichte ordentlich anzukurbeln lohnt es sich immer, sie in die späten Siebziger zu versetzen. Der britische Autor Andrew Michael Hurley schickt in seinem Debütroman „Loney“ eine Gruppe streng gläubiger Christen auf eine Pilgerreise an einen abgelegenen, trostlosen Küstenort. Und da wir uns dabei im Jahr 1976 befinden, werden die Bilder, die dabei entstehen, gleich noch eine Spur düsterer. Dabei macht Andrew Michael Hurley nicht den Fehler, sich auf die Zeit, in der seine Geschichte spielt, zu sehr drauf zu setzen. Es ist mehr das bloße Wissen, das im Kopf unheimliche Bilder in schmutzigen Sepiatönen entstehen lässt. Auch dass er Hauptfigur Tonto selbst erzählen lässt, trägt zur Natürlichkeit der Atmosphäre bei. Und das in einer Geschichte, in der sonst so gar nichts natürlich ist.
30 Jahre nach jener besagten Pilgerreise ist The Loney, ein verregneter Landstrich an der nordenglischen Küste, plötzlich in den Medien. Auf Coldbarrow, dem äußersten Landzipfel von The Loney, hat ein Erdrutsch ein Haus zum Absturz gebracht und dabei die Leiche eines Babys freigelegt. Tonto erinnert sich daraufhin an die Karwoche auf The Loney, die ihn und seinen Bruder Hanny auf schreckliche Weise mit den jetzt ans Licht kommenden Ereignissen verknüpft hat. Der neue Pfarrer Father Bernard, der den Platz des kürzlich verstorbenen Father Wilfred eingenommen hat, begibt sich mit Vater und Mutter der beiden Jungs, dem Ehepaar Belderboss, der Pfarrhausköchin Miss Bunce und deren Verlobten zum ersten Mal auf die schon mehrfach stattgefundene Reise nach The Loney. Für Mummer, die Mutter der beiden Jungs, geht es dabei um alles. Die streng gläubige, bibeltreue Christin hofft auf Heilung und Erlösung für ihren Sohn Hanny, der, obwohl bereits in jugendlichem Alter, stumm und auf dem geistigen Stand eines Kleinkindes ist. Dies soll durch Trinken aus der dortigen heiligen Quelle, Fasten und exzessives Beten geändert werden. Aber schon kurz nach der Ankunft mehren sich unheimliche Vorkommnisse. Farther, der Vater der beiden Jungs, legt einen bisher unbekannten Raum in dem Gut Moorings frei, in dem die Gruppe jedes Jahr weilt und findet dabei seltsame Dinge. Aus dem Wald tönt Geschrei, die Dorfbewohner verhalten sich seltsam, Bäume beginnen trotz des unwirtlichen Wetters plötzlich zu blühen und Früchte zu tragen. Die beiden Jungs finden sich auf einem ihrer Streifzüge auf Coldbarrows wieder und machen Bekanntschaft mit dem schwangeren Mädchen Else, das mit ihrer Mutter und einem Mann namens Leonard in Thessaly wohnt, dem Haus auf dem nördlichsten Punkt der Klippen. Auch hier tun sich keine guten Dinge, spürt Tonto schnell. Darüber hinaus schwelen zwischenmenschliche Konflikte, vor allem zwischen Father Bernard und Mummer, die den modernen, menschlichen Ansätzen des jungen Priesters gegenüber wenig aufgeschlossen ist.
Andrew Michael Hurley schafft es schnell, Spannung und eine starke Atmosphäre aufzubauen. Das liegt auch an seiner sprachlichen Versiertheit, er erzählt unbemüht, stilistisch klar und dicht. Nur leider verzettelt er sich zunehmend im Mysteriösen. Und auch wenn es gar nicht nötig ist, jedes Geheimnis zu lüften, man nicht zwingend erfahren muss, was genau auf Coldbarrow passiert ist, drängt sich einem zunehmend der Verdacht auf, dass der mysteriöse Teil der Handlung einzig dafür besteht, Spannung zu generieren. Das nimmt „Loney“ leider viel von seiner erzählerischen Substanz.
Denn eigentlich wäre vieles von diesem Erzählstrang gar nicht nötig gewesen. Hauptsächlich ist „Loney“ nämlich eine Geschichte von christlichen Hardlinern, die versuchen die Lösung für alles in exzessiven Gebeten und bibelgetreuer Ausübung ihres Glaubens zu finden und das ist auch die absolute Stärke des Romans. Der Verstorbene Father Wildfred bringt es gen Ende in einer Rückblende auf den Punkt: die Suche nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung. „Wenn sie sündigten beichteten sie und wurden frei gesprochen. Wenn sie gute Taten vollbrachten, würden sie im Himmel belohnt werden.“ Die Welt außerhalb des Glaubens ist verwirrend, da diese Grundsätze dort selten so funktionieren.
Die Geschichte einer streng gläubigen Gruppe von Menschen, die sich auf Pilgerreise begibt mit dem Ziel, einen zurückgebliebenen Menschen zu heilen, ist für sich ein spannendes Motiv. Genauso die Unfähigkeit einer Mutter, die Andersartigkeit ihres Sohnes zu akzeptieren und stattdessen alles als eine fromme Bürde zu sehen, die es mit Hilfe des Glaubens zu überwinden gilt. Darüber hätte man gerne noch mehr erfahren. Dann wäre die Figur der Mummer vielleicht auch etwas fleischlicher geworden, weniger unerträglich in ihrer Unfähigkeit, von ihren Glaubensgrundsätzen abzuweichen und Menschen so zu akzeptieren wie sie sind. Das zeigt sich nicht nur in ihrer Beziehung zum eigenen Sohn sondern auch in ihrem Umgang mit Father Bernard, dem neuen Pastor, der versucht die verkrusteten Denkansätze mit etwas mehr Menschlichkeit aufzubrechen.
Stattdessen spielt Hurley zu viel und eher oberflächlich mit den Ängsten seiner Leser. Ein bisschen „Rosemary’s Baby“, ein bisschen „Der Exorzist“, angedeutete Brutalität und unerklärliche Phänomene. So lässt einen „Loney“ trotz vieler starker Passagen am Ende leider etwas unbefriedigt zurück.

Info: „Lonely“ ist nach einer Reihe von Erzählungen das Romandebüt des britischen Autors Andrew Michael Hurley. Es ist bei Ullstein Buchverlage erschienen und kann hier käuflich erworben werden.  

Gelesen von: Gabi Rudolph

www.ullsteinbuchverlage.de