Gelesen: Alexander Osang „Die Leben der Elena Silber“

Als mein Sohn neulich das Buchcover zu Alexander Osangs neuem Roman „Die Leben der Elena Silber“ auf meinem Nachttisch entdeckt, fragt er mich, warum die Frau darauf so oft abgebildet sei – und trifft damit, ohne es zu wissen, den Nagel voll auf den Kopf. Denn Alexander Osang erzählt, wie auch der Titel verrät, von einer Frau, die bis zu ihrem Tod nicht nur eins, sondern gefühlt viele Leben gelebt hat. Die Inspiration hierfür lieferte Osangs eigene Familie, vor allem seine Großmutter.

Die Geschichte der Elena Silber beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts in Gorbatow, einer russischen Provinzstadt. Jelena heißt sie damals noch, ist ein kleines Mädchen und muss mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Pawel ihr Zuhause überstürzt verlassen, als ihr Vater, der Revolutionär Viktor Krasnow hingerichtet wird. 13 Jahre später, Jelena ist 15, kehren sie zurück in die Heimat, wo der Prozess gegen die Mörder des Viktor Krasnow ansteht. Jelena trifft ihre erste Liebe, Alexander, der ausgerechnet der Sohn eines der Mörder ihres Vaters ist, des einzigen, der im Lauf des Prozesses zum Tode verurteilt wird. Aber die Wege der beiden trennen sich wieder, denn Jelena flieht weiter. Diesmal vor den Avancen des Stiefvaters. Sie wird die Frau des deutschen Textilfabrikanten Robert Silber, der nach Russland geladen wird, um vor Ort zu helfen, die Textilproduktion voranzutreiben.

Die Flucht geht weiter, als die politische Situation in der Sowjetunion gefährlich wird nach Berlin, in den Wirren des zweiten Weltkrieges nach Schlesien. Jelena wird Mutter von fünf Mädchen und muss miterleben, wie ihre jüngste Tochter stirbt. Als nach Kriegsende Robert Silber mit dem Familienschmuck verschwindet, macht Jelena sich erneut auf nach Berlin, wo aus Jelena Elena wird. Aber wie geht so ein Leben weiter, das bis jetzt nie lange an ein und demselben Ort stattgefunden hat und das  erst einmal herausfinden muss, ob ein Gefühl von Heimat überhaupt noch möglich ist.

Im Jahr 2017, im ehemaligen Ostteil von Berlin, ist der Filmemacher Konstantin auf der Suche nach „seinem Thema“. Er begleitet den serbischen Tennisspieler Bogdan, der als Kind aus Belgrad floh und versucht über dessen Leben eine Produktion für Netflix zu pitchen, über ein von der Flucht geprägtes Leben. Währenddessen entscheidet seine Mutter, den zunehmend an Demenz leidenden Vater, einen ehemals berühmten Tierfilmer der DDR, in einem Heim unterzubringen, und zwar in demselben Heim, in dem die inzwischen verstorbene Großmutter, Elena Silber, ihre letzten Tage verbracht hat. Seine Mutter, immer leicht enttäuscht von Konstantins eher wenig aufschwunghaften Karriere, rät ihm, innerhalb der eigenen Familie auf die Suche nach seinem großen Thema zu gehen.  Konstantin reist nach Russland, besucht gemeinsam mit seinem Cousin den Geburtsort seiner Großmutter, sucht das Gespräch mit seinen Tanten und muss feststellen, dass Familie zu sein nicht automatisch bedeutet, sich wirklich zu kennen. Denn die Geschichte seines Lebens, die jeder mit sich rum trägt ist auch immer geprägt von dem, was derjenige von sich erzählen will. 

Über 100 Jahre Familiengeschichte umfasst Alexander Osangs „Die Leben der Elena Silber“, genug Zeit für mehr als ein Leben. Er erzählt nicht nur Elenas Lebensgeschichte und die Spurensuche in der Gegenwart, sondern taucht auch ein in Konstantins Kindheit und Jugend in der DDR. Vielleicht liegt es an dieser überwältigenden Fülle, dass nicht alle Handlungsstränge es gleichermaßen schaffen zu fesseln. Es mag auch der Tatsache geschuldet sein dass das Altern der eigenen Eltern gerade mein eigenes großes Thema ist, dass mich Konstantins Geschichte, seine Suche nach der Wahrheit und der Umgang mit seinen Eltern, die sich, aus verschiedenen Gründen, mehr und mehr von ihm entfernen, am meisten berührt hat. Die Vergangenheit bleibt im Vergleich dazu emotional eher in der Ferne. Dagegen stehen immer wieder Passagen, die derart berührend sind, dass ich das Buch für einen Moment zur Seite legen musste.

Natürlich ist das bei Alexander Osang Jammern auf hohem Niveau. Wer ihn kennt, der kennt bestimmt auch das Gefühl dass es nahezu unmöglich ist, von ihm nicht im besten Maße unterhalten zu werden. Sein Schreibstil ist unvergleichlich lebendig, außerdem schafft er es seine Figuren ernst zu nehmen und sie gleichzeitig, wenn es angebracht ist, auch mal aus einer ironischen Distanz zu betrachten. „Die Leben der Elena Silber“ ist ein sehr persönlicher Roman, den zu schreiben Alexander Osang sich viel Zeit gelassen hat und der ihm sicherlich einiges abverlangt hat. Wer sich selbst in einer Phase seines Lebens befindet, in der er sich mit der Vergangenheit seiner Eltern beschäftigt, wird das besonders nachvollziehen können. Aber auch sonst ist „Die Leben der Elena Silber“ ein großer, Epochen umspannender Roman geworden, dessen leichte Schwächen beim Lesevergnügen kaum ins Gewicht fallen. 

„Die Leben der Elena Silber“ von Alexander Osang ist im Fischer Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier.

Gelesen von: Gabi Rudolph