Gelesen: Adam Haslett „Stellt euch vor, ich bin fort“

„Stellt euch vor, ich bin fort“, sagt John zu seinen Kindern Celia und Alec, im Ruderboot draußen auf dem Wasser und verlangt von den beiden, die Situation zu lösen. Was wäre, wenn er jetzt plötzlich nicht mehr da wäre? Schaffen die Kinder es, das Boot alleine zurück ans Ufer zu manövrieren? Es ist nur ein Spiel, aber es ist symptomatisch für den Schatten der über der Familie liegt, deren Geschichte Adam Haslett in seinem zweiten Roman „Stellt euch vor, ich bin fort“ nach und nach entfaltet.
Es geht um die Liebe zwischen der Amerikanerin Margaret und dem Engländer John, die sich in den sechziger Jahren in London kennenlernen. Margaret verliebt sich in seine englische Galanterie und anfängliche Unsicherheit. Als sie nach der Bekanntgabe der Verlobung über Weihnachten zurück in die Staaten reist, erfährt sie nach ihrer Rückkehr, dass John in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Er hatte keinen Unfall, er leidet an etwas, wovon seine Eltern gehofft hatten, es habe sich endlich erledigt. Seine Mutter findet es „höchst unerfreulich“. Margaret entscheidet sich, ihren Eltern und Freunden nichts davon zu erzählen und für die Ehe, obwohl sie jetzt weiß, dass John manisch depressiv ist. Das ganze Ausmaß dessen, was es für die gemeinsame Zukunft bedeuten wird, kann sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschätzen. Das Paar bekommt drei Kinder, Celia, Alec und Michael. Auch wenn sie in Schüben, mal mehr mal weniger schlimm verläuft, so trifft die Krankheit die Familie doch schwer. Irgendwann ist der Wunsch fort zu sein zu groß, John entscheidet sich, das Leben zu verlassen.
Aus wechselnden Perspektiven lässt Adam Haslett seine Protagonisten jeweils ihren Teil der Geschichte erzählen. Alec, der sich in seiner Homosexualität zur Einsamkeit bestimmt sieht, nur durchbrochen durch gelegentliche anonyme Dates, bis er Seth kennenlernt und überhaupt erst einmal lernen muss anzunehmen, dass so etwas wie eine feste Beziehung für ihn in den Karten steht. Celia, die ihrem Drehbuch schreibenden Freund Paul versucht den Rücken frei zu halten, während sie sich selbst nach beruflicher Weiterentwicklung sehnt und bewusst gegen ein Kind entscheidet. Michael, der die Krankheit seines Vaters geerbt hat, sich an unmögliche Beziehungen klammert und mithilfe von Psychopharmaka versucht, seinen funktionalen Platz im Leben zu finden. Und Mutter Margaret, die als Bindeglied versucht, die Familie nach dem Suizid des Vaters vor noch mehr Brüchen zu bewahren, auch durch ihre finanzielle Unterstützung, durch die ihr zuletzt der Verlust des Familienhauses droht.
Adam Haslett setzt lange auf einen ruhigen Erzählfluss und leise Töne. Das Drama entfaltet sich eher im Stillen. Umso schockierender setzt es zum Ende ein, die Unfähigkeit der Familie, Michaels bipolare Störung tatsächlich als Krankheit zu begreifen, ist schmerzhaft mitzuerleben und führt unweigerlich in die Katastrophe. Die Verharmlosung psychischer Krankheiten, sie als etwas zu sehen das man mit Willenskraft und zusammengebissenen Zähnen überwinden kann, ist auch heute noch ein gesellschaftlich relevantes Thema, hierzu kann man kaum genug Aufklärung betreiben. Haslett, der selbst an Depressionen leidet, tut dies jedoch ohne erhobenen Zeigefinger, er beschreibt den verzweifelten Versuch einer Familie, unter dem Schleier der Krankheit und der Medikamente einen geliebten Menschen wiederzufinden. Sprachlich regieren bei ihm Schlichtheit und Ruhe, dennoch verleiht er mühelos jedem der Familienmitglieder seine eigene Stimme. Das Erzählkonstrukt ist kunstvoll, er wechselt zwischen Perspektiven und Zeiten und schließt am Ende den Kreis zum Anfang. „Stellt euch vor, ich bin fort“ wurde in den USA unter anderem für den Pulitzer-Preis und den National Book Award nominiert, Adam Haslett wird für seine Erzählweise gerne mit Jonathan Franzen, dem Meister der dysfunktionalen Familiengeschichten, verglichen. Ihm ist ein klassischer amerikanischer Familienroman gelungen, der durch das Thema der manischen Depression noch einmal an zusätzlicher Tiefe und Schärfe gewinnt.

Info: „Stellt euch vor, ich bin fort“ von Adam Haslett ist in deutscher Übersetzung beim Rowohlt Verlag erschienen und kann hier käuflich erworben werden. Eine Leseprobe gibt es hier

Gelesen von: Gabi Rudolph

www.rowohlt.de
www.adamhaslett.net