Wenn es eine Band schafft, sich mit der Veröffentlichung einer Live-DVD von Null auf Eins an die Spitze der deutschen Musikcharts zu setzen, dann liegt das zum einen natürlich am Schaffen dieser Band, zum anderen aber mit Sicherheit an einer enorm großen, starken und überaus loyalen Fanbase.
Andy Fletcher, Martin Gore und Dave Gahan – seit mehr als 30 Jahren bekannt und erfolgreich als Depeche Mode – gelang jetzt mit dem Mitschnitt der Barcelona-Konzerte ihrer letzten „Tour of the Universe“ dieser Chartsturm. Von vielen ihrer Anhänger schon in den Rang moderner Gottheiten erhoben, zählen die drei Herren aus Basildon bei London seit nunmehr 30 stolzen Jahren zum erlauchten Kreis derer, die es schaffen, sich in ihrer Arbeit immer wieder ein wenig neu zu erfinden und sich dennoch dabei treu zu bleiben. Kaum eine andere Band, deren Ursprung in den 80er Jahren liegt, wird von so vielen anderen Größen des Musikbusiness als vorbildhaft und persönlich einflussreich bezeichnet. Neben Kraftwerk sind sie mit Sicherheit die populärsten Wegbereiter der elektronischen „Music for the Masses“.
9 Monate nach dem Ende ihrer Tour, die Depeche Mode mit 102 Konzerten durch 40 Länder vor mehr als 2,7 Millionen Zuschauer führte, liegt nun (wie immer rechtzeitig zum lukrativen Weihnachtgeschäft) eine umfassende Wiedergabe ihres Bühnenwirkens in gleich mehreren Veröffentlichungsversionen (DVD/Deluxe-Edition/Blu-ray) vor. Und schon erheben die eifrigsten Jünger der Band in den zahlreichen Foren einen uneingeschränkten und Kritik nicht zulassenden Jubelsturm auf den rund zweistündigen Mitschnitt. Zu Recht?
Die Antwort ist ein klares: Jein!
Erste Ausschnitte ließen vermuten, Regisseur Russell Thomas sei gelungen, was seinem Vorgänger mit dem Tourmitschnitt zur „Playing the Angel“ (2006) verwehrt blieb. War dieser Film noch überladen mit Effekten, Verzerrungen und teils bizarren Einstellungen, schien diesmal das Augenmerk auf Atmosphäre und Stimmungen zu liegen. Nach Ansicht des Gesamtwerks bleibt etwas ernüchternd zu konstatieren, dass auch diesmal das Thema dank merkwürdiger Bildausschnitte, einiger Unschärfen und einer wirklich unentschlossenen Bildauswahl verfehlt wurde. Stadion-Stimmung mittels zahlreicher Publikumsgroß- oder Panoramaufnahmen einzufangen, mag im Ansatz richtig sein, aber die Protagonisten sind immer noch Dave, Martin und Andy.
Nichtsdestotrotz lässt sich nachvollziehen, warum u.a. die „Berliner Zeitung“ und die „Morgenpost“ Depeche Mode als die momentan „beste Stadion-Rockband“ bezeichnen (schönen Gruß an Weltverbesserer Bono!): Trotz der unguten Vorzeichen zu Tour-Beginn – Andy Fletchers Vater stirbt am Tag des ersten Konzerts, Dave Gahan erhält eher zufällig eine Krebsdiagnose und stellt sich kaum richtig genesen nach einer einmonatigen Unterbrechung wieder auf die Bühne – ist diese ausverkaufte Konzertreise ein bejubelter Triumph. Und nicht weniger dokumentiert auch die vorliegende Live-DVD.
Das Set deckt bestmöglich ein breites Spektrum des Bandschaffens ab, auch wenn der Massen-Kompatibiltät geschuldet wieder einmal eher auf die ganz großen Nummern (dabei unverzichtbar: „Enjoy The Silence“, „Personal Jesus“, „Never Let Me Down Again“) gesetzt wurde. Highlights sind aber auch das kraftvolle „Wrong“ vom letzten Album, Martin Gores Part (u.a. mit dem zeitlosen „Home“) und die letzte Zugabe, das minimalistisch im Duett vorgetragene „Waiting For The Night“ (mit sympathischem Patzer von Dave Gahan).
Zahlreiche Bonustracks dokumentieren auch die alternativ gespielten Titel. Anzukreiden wäre hier nur der Verzicht auf die im Sommer in den Stadien noch gebrachten Raritäten „Strangelove“ und „Master And Servant“ (eigentlich ein absoluter Live-Kracher und unverständlicherweise auf dem Winterpart der Tour in den Hallen durch „Behind The Wheel“ ersetzt).
Absolut tadellos dafür das Bonusmaterial mit den Bühnen-Projektionen (wieder verantwortlich: Anton Corbijn), einer gut gemachten Tour-Dokumentation mit hintergründigen Interviews, einigen Aufnahmen von den Rehearsals in New York und den Videos der letzten Single-Veröffentlichungen. Hier trifft man wieder untrüglich das Herz der Fans.
Und nun bleibt eben diesen Fans nur wieder das bange Warten, ob und wann und wie es denn weitergeht mit ihren in die Jahre gekommenen Idolen. Die Stimmung und Spielfreude innerhalb der Band war zuletzt so gut wie nie, und als „Sahnehäubchen“ gab es im Februar in London eine kurze Bühnen-Stippvisite von Band-Ex Alan Wilder, der selbst 15 Jahre nach seinem Ausstieg ob seiner Soundtüfteleien von vielen Anhängern schmerzlich vermisst wird.
Sollten dies die Vorzeichen zu einem Abschied für immer gewesen sein? Dann bliebe wirklich nur noch diese Live-DVD als letztes Dokument einer wirklich großen musikalischen Ära.
Schade wär’s, doch die (Fan-)Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Gehört und gesehen von Thomas Matthes