Guitarhero Graham is back!
Ein Grund zur Freude für antiquierte Britpop-Fans, die langsam aber sicher aus ihrem Winterschlaf erwachen dürfen: Gitarrenlegende und Blur-Mitglied Graham Coxon veröffentlichte Ende März sein inzwischen 8. Soloalbum.
Graham Coxon, der mit seinen Markenzeichen Nerdbrille, Converse Allstars und Dackelblick den Beschützerinstinkt jedes Akustikfans auslöste, wirkte neben dem extrovertierten und selbstverliebten Blur-Frontmann Damon Albarn immer eher schüchtern und zurückgezogen und manövrierte sich durch augenscheinliche Passivität oftmals selbst ins Aus. Für alle 90er-Fans war aber er der einzig wahre Held des Britpop-Movements – und das nicht nur musikalisch. Mit typischem Fred Perry Poloshirt, Sneakers und dem Gerade-aufgestanden-Look war er mitprägend für das Erscheinungsbild des 90er Jahre Teenagers.
Da ist es alles andere als verwunderlich, dass das Album nicht nur in Großbritannien mit Spannung erwartet wurde. Doch sind die Erwartungen zu hochgeschraubt? Diejenigen, die sich nach einer Art Blur-Revival sehnen, mit klaren Stimmen und eindringlichen, gesellschaftskritischen Lyrics, umspielt von vertrauten Gitarrenklängen, werden bitter enttäuscht. Mit „A&E“ belehrt uns Graham, unser Schubladendenken nochmals zu hinterfragen, denn der 43 Jahre junge Brite kann auch anders, weg von seinem (Akustik-) Gitarrenimage. Er traut sich hier etwas komplett Neues – neu sowohl für ihn als auch für seine treuen Fans.
Graham Coxon hat während seiner Solokarriere schon einiges mehr oder minder erfolgreich ausprobiert: Gestartet 1998 mit „The Sky Is Too High“ im English Folk- und 60s Garage Rock-Stil, experimentierte er 2002 auf Soloalbum Nr. 4 schon mal mit Musik à la Syd Barrett und Progressive Rock. Auf das fünfte und bislang erfolgreichste Soloalbum „Happiness in Magazines“ (2004) mit der bittersüßen Single „Bittersweet Bundle of Misery“ folgte dann 2005 ein NME-Award als Bester Soloartist. Nach dem vorangegangenen Akustikalbum „The Spinning Top“ (2009) ist Album Nr. 8 mit experimentellem Garagen-Punk-Pop für die einen ein Schock, für die Harmonieverächter unter uns eine Wohltat.
Das Multitalent, das alle Instrumente des Albums selbst spielt, gibt zwar seine Gitarre noch immer nicht in fremde Hände; seine wirkliche Gabe sieht man jedoch lediglich auf Videoaufnahmen: Graham und seine favorisierte Fender Telecaster sind wieder eins, die Finger fliegen nur so über die Saiten, die Symbiose zwischen Graham und seinem Lieblingsinstrument ist wiederhergestellt.
Für den ausschließlichen Hörer bleibt Grahams Talent ein Mythos: die Songs sind mit gekonnten Gitarrenriffs und Akkordwechseln so sehr überladen, dass sie kaum noch herauszuhören sind und im Synthesizerhagel untergehen. Obwohl der Opener „Advice“ noch auf altehrwürdigen Pop bauen lässt, gehen alle 10 Songs etwa in Richtung Industrial und Dance. An Stellen, wo die Gefahr bestehen könnte, dass es zu harmonisch wird, werden einfach mal Punk-Verzerrungen eingeworfen. Song Nr. 3 („What’ll It Take“) erinnert sehr an die Hochphase von Kraftwerk, während man hinter „Knife in the Cast“ einen Joy Divison-Einfluss vermutet.
Definitiv ist das Album nur etwas für hartgesottene Fans der Britpop-Ära – oder für sehr tolerante, denen die musikalischen Ausflüchte ihrer Gitarrenikone weniger ausmachen. An einigen Stellen wünscht man sich schon, einfach mal den Stecker zu ziehen, denn unplugged ist Grahams Stärke – das sollte er nach 8 Alben doch mal gelernt haben… Für die unflexiblen, die den Blur-Gitarristen mit Old-School verbinden, ist „A&E“ wohl nichts. Für Industrialfans, die ab und an auch mal Punkpassagen vertragen, ist das Album eine hörenswerte Mutprobe, die die universelle Begabung des Künstlers unter Beweis stellt.
„A&E“ steht als Abkürzung für „Accident and Emergency“. Die Interpretation des ausgefallenen Titels sollte nicht vorweggegriffen werden, sondern wird dem Hörer und seiner musikalischen Orientierung überlassen.
Gehört von: Melanie May