„Es ist 84 Jahre her“, flüstere ich, ganz im Stil des Gifs mit der alten Rose aus „Titanic“, als ich endlich auf die Play-Taste der Debüt-EP „You Don’t Have To Be Yourself Right Now“ von 86TVs drücke. Nachdem die Band mehrere Jahre lang heimlich zusammen Musik gemacht hatte, gab sie vor über 18 Monaten ihre Existenz bekannt und hat nun endlich ihre erste Sammlung aufgenommener Songs veröffentlicht. Die Band, die sich aus Felix und Hugo White von The Maccabees, ihrem anderen Bruder Will White (ehemals Talk Taxis und sein Soloprojekt BLANc) und dem Schlagzeuger Jamie Morrison von den Stereophonics zusammensetzt, ist einen ungewöhnlichen Weg gegangen, um an diesen Punkt zu gelangen. Nachdem sie bereits Support-Act des Indie-Schwergewichts Jamie T waren, ohne Musik veröffentlicht zu haben, und dann eine eigene Headline-Tournee mit einer einzigen Single hinter sich gebracht haben, fühlen sich 86TVs anormal an in einer Musiklandschaft, in der die Gründung einer Band mit ständigen Veröffentlichungen und dem Herausschreien der eigenen Existenz im Hamsterrad der Social-Media-Algorithmen einher zu gehen scheint. Das Ergebnis ist eine immense Vorfreude auf eine Debüt-EP, die selbstbewusst und glänzend daherkommt.
Auf „You Don’t Have To Be Yourself Right Now“ zeigen die White-Brüder ihre einzigartige Fähigkeit, drei verschiedene Texter, Sänger und Perspektiven zu ausgefeilten Indie-Rock/Pop-Songs zusammenzubringen. Während der gesamten EP wird der Staffelstab geschickt zwischen den drei Brüdern weitergereicht, wobei jeder den Part des Lead-Songwriters und des Sängers übernimmt (Hugo bei ‚Worn Out Buildings‘ und ‚Dreaming‘, Felix bei ‚Higher Love‘ und Will bei ‚Spinning World‘). Beim ersten Hinhören ist es oft schwierig zu unterscheiden, wer genau singt, und selbst die Harmonien erwecken gelegentlich den Eindruck einer einzigen Stimme. Wo auffallend verletzliche Texte gesungen werden, fügen die brüderlichen Stimmen zusätzliche Elemente der Beruhigung und Katharsis hinzu („You don’t have to be yourself right now / Just give it time, you’ll work that out“) oder direkt schwindelerregende Dopaminschübe im Refrain der hochfliegenden zweiten Single ‚Higher Love‘. Der letztgenannte Song ist ein schweißtreibendes, adrenalingeladenes Grundnahrungsmittel in den Live-Sets von 86TVs, obwohl die aufgenommene Version wahrscheinlich davon profitiert, dass Felix‘ Markenzeichen, der enthusiastische Schrei, weggelassen wurde.
Während die Geschwister-Dynamik von 86TVs in der DNA der Band verankert ist, darf der Beitrag, den Schlagzeuger Jamie Morrison zu ihrem Klangprofil leistet, nicht übersehen werden. ‚Worn Out Buildings‘ ist ein Paradebeispiel für Morrisons energiegeladenen Spielstil, der den Song entweder mitreißt oder sich gekonnt zurücknimmt, um die eigenständigen Texte und Gitarren zu betonen. Wenn man das perkussive Rückgrat von 86TVs hört, ist es leicht zu verstehen, dass die spätere Aufnahme von Morrison in das Line-up der Band sowohl auf sein Talent als auch auf seine Ausstrahlung positiver Vibes zurückzuführen ist, die sich im erhebenden Sound widerspiegeln. Der Abschlusstrack ‚Dreaming‘ spiegelt hörbar Morrisons Rolle als beständiger Herzschlag der Band wider, denn das Schlagzeug bildet einen sanften Hintergrund für den Wiegenlied artigen Gesang der Brüder und die schimmernden Gitarren.
Apropos schimmernde Gitarren: Fans von The Maccabees wird es nicht überraschen, dass die charakteristischen, ineinander verwobenen Gitarren der Band auch in „You Don’t Have To Be Yourself Right Now“ zu hören sind. Die Fähigkeit von Felix und Hugo, ausgedehnte kinematische Klanglandschaften mit flirrenden Gitarren zu erschaffen, erinnert an die letzten Alben ihrer früheren Band und führt zu willkommenen Nostalgie-Einflüssen auf 86TVs‘ Debütalbum. Kombiniert mit den pirouettierenden Basslines von Bruder Will und den oben erwähnten Gesangsharmonien, verschmelzen Nostalgie und Frische zu etwas Neuem und doch Vertrautem, wie eine Kuscheldecke, die mit einer roten Socke durch die Waschmaschine gegangen ist.
„You Don’t Have To Be Yourself Right Now“ zeugt davon, dass sich 86TVs in aller Ruhe Zeit genommen haben, um einen Sound und eine Vierer-Bruderschaft zu entwickeln, die einzigartig für diese Band ist und auf ihrem Debütalbum durchscheint. Obwohl diese EP lange auf sich warten ließ, fühlt sich das Endergebnis so an, als ob sich die Sterne für ein viel erwartetes und gelungenes Debüt aufreihen würden. Als Hörer fragt man sich nur, wie lange es noch dauert, bis die nächste Ladung 86TVs-Songs erscheint… und was zum Teufel sind „barbed wire hands“?
Der Beitrag ist ursprünglich auf Englisch erschienen und wurde ins Deutsche übersetzt.