Am Wochenende saß Emily Haines gemeinsam mit Producer Legende Tony Visconti, Garbage Frontfrau Shirley Manson, dem Hamburger Duo Boy und dem britischen Radiomoderator Hugh Stevens in der Jury zum Anchor Award, mit dem im Rahmen des Reeperbahn Festivals vielversprechende Nachwuchs-Acts ausgezeichnet wurden. Während der Verleihungszeremonie präsentierte jedes Jury Mitglied einen Gegenstand, der für sie/ihn im Zusammenhang mit Musik eine besondere Bedeutung hat. Im Fall von Emily Haines war dieser ein orangefarbener Hoodie, der in der visuellen Kampagne zu ihrem aktuellen Solo-Album „Choir Of The Mind“ eine besondere Rolle spielt. Er ist unter anderem in den Videos zu „Fatal Gift“ und „Planets“ zu sehen, und Haines nutzte die Zeit auf der Bühne, seine Bedeutung zu erklären: ein Symbol für den inneren Weirdo, für den Mut anders zu sein, den seltsamen Teil seiner Selbst zuzulassen. Für den Rest der Veranstaltung legte sie den orangefarbenen Hoodie nicht mehr ab, er durfte die ganze Zeit lässig über ihrem glänzenden Kleid thronen. Das wirkte so organisch, dass man sich der Erkenntnis nicht erwehren konnte: Emily Haines ist offensichtlich im Einklang mit ihrem inneren Weirdo.
Die Frontfrau der kanadischen Indie-Erfolgsband Metric ist „nebenher“ nicht nur Teil des Bandkollektivs Broken Social Scene und war maßgeblich an der Entstehung dessen aktuellen Albums „Hug of Thunder“ beteiligt. Sie hat sich auch mit ihrem Soloprojekt Emily Haines & The Soft Skeleton einen Safe Space für eben diesen inneren Weirdo geschaffen. „Choir of the Mind“, das erste neue Emily Haines & Soft Skeleton Album seit zehn Jahren, ist dafür das beste Beispiel. Es wirkt wie eine Spielwiese, auf der das möglich scheint, wofür in den anderen Projekten weniger Platz ist. Ruhige, minimalistische Töne, die manchmal von nicht viel mehr als Emilys Stimme erzeugt werden („Strangle All Romance“). Schwere, von Klavier, Chor und Hall getragene Melancholie („Wounded“, „Planets“). Das ist wunderschön, aber auf eine schwer zu erklärende Art auch nie zu geradlinig. Eben wie ein orangefarbener Hoodie über einem sexy Outfit, über allem schwebt eine Seltsamheit, die verstörend und harmonisch zugleich ist. Und manchmal, in den allerbesten Momenten, galoppiert diese Seltsamheit auch ungezügelt davon, wie in der ersten Single „Fatal Gift“, die eins zu eins wie eine saubere Pop-Ballade beginnt, dann plötzlich eine Wendung nimmt, zu einem sechsminütigen Kuriosum heranwächst und dabei von Minute zu Minute immer seltsamer, immer besser wird, bis am Ende ein düsteres, tanzbares Biest losgelassen wird.
„Choir of the Mind“ ist kein einfaches, aber auch kein schwieriges Album. Es ist ruhig, ohne dahin zu plätschern. Schwer, ohne einen runter zu ziehen. Es wirkt wie eine logische Fortsetzung des letzten Emily Haines & The Soft Skeleton Albums „Knifes Don’t Have Your Back“, ist aber trotzdem ganz anders, etwas mutiger und verspielter. Vielleicht wirkt das alles so überzeugend, weil Emily Haines, wie sie am Wochenende in Hamburg bewies, eine Haltung hat, die ihr Schaffen schwer als musikalischen Small Talk begreiflich macht. Inhalt ist einfach etwas sehr Schönes, nahezu Tröstliches in diesen von Schnelligkeit und Oberflächlichkeit dominierten Zeiten.
VÖ: bereits erschienen
Gehört von: Gabi Rudolph