Lina LaCour „Alles Okay“
Marin hat ihre alte Heimat Kalifornien hinter sich gelassen, um im tausende von Kilometern entfernten Neuengland aufs College zu gehen. Jetzt ist es Weihnachten und sie ist die einzige Studentin die im Wohnheim bleiben wird, mit niemand anderem als dem Hausmeister in der Nähe, der ab und zu nach ihr sehen wird. Marin hat keine Familie mehr, ihre Mutter starb bereits als sie ein kleines Kind war, weshalb sie bei ihrem Großvater aufwuchs. Nun ist auch er gestorben und Marin versucht mit aller Kraft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Das Angebot der Familie ihrer ehemals besten Freundin Mabel, Weihnachten mit ihnen in der alten Heimat zu verbringen, hat sie ausgeschlagen. Aber Mabel hat sich auf den Weg zu ihr gemacht, gewillt, Marin über die Feiertage nicht alleine zu lassen. Und sie möchte wissen was damals passiert ist, warum Marin weg gegangen ist, warum sie nicht zurück kommen will, und was den Schmerz verursacht hat, der sie so offensichtlich quält.
Nach und nach erfahren wir, welcher Schatten über Marins Vergangenheit liegt und was die Freundschaft der beiden Mädchen so kompliziert macht. Ein zartes Band, das beinah einmal mehr als Freunde aus ihnen hätte werden lassen und das jetzt, da Mabel einen Freund hat, erst einmal entwirrt werden muss. Nina LaCour ist dabei stets ganz nah dran an dem Schmerz, den Sorgen und der Leidenschaft ihrer jungen Protagonistinnen. Sie erzählt eine bittersüße, tieftraurige Geschichte vom Erwachsenwerden, die trotz aller Melancholie hoffnungsvoll stimmt.
Erschienen im Hanser Verlag
Lotta Elstad „Mittwoch also“
Nach einem One-Night-Stand stellt Hedda fest, dass sie schwanger ist. Und sie ist sich ganz sicher, dass sie abtreiben möchte. Die Regelungen des norwegischen Gesundheitssystems machen ihr für eine schnelle Entscheidung aber einen Strich durch die Rechnung – Hedda wird wieder nach Hause geschickt, mit einer Broschüre und der Verordnung von drei Tagen Bedenkzeit. Drei Werktagen wohlgemerkt, wodurch aus den drei Tagen in Wirklichkeit schon fünf werden. Am kommenden Mittwoch könnte die Abtreibung durchgeführt werden.
Dabei hat Hedda gerade schon genug Probleme. Die Auftragslage als freie Autorin hat sich verschlechtert, ihr Freund hat mit ihr Schluss gemacht, und ihr One-Night-Stand Milo entpuppt sich als anhänglicher als geplant. Eigentlich soll die zwangsauferlegte Bedenkzeit ja zu einer Entscheidung führen, aber bei Hedda bewirkt sie genau das Gegenteil. Sie stürzt sie in eine Zeit des Chaos und der Verdrängung – obwohl sie sich im tiefsten Innern eigentlich von Anfang an sicher ist, dass sie das Kind nicht haben möchte. Aber darf man als Frau so denken? Müsste sie nicht Gewissensbisse und frühe mütterliche Gefühle haben?
Lotta Elstad schickt uns auf eine Reise mit einer Protagonistin, deren Handeln nicht immer leicht nachzuvollziehen ist. Trotzdem bleibt man ihr gewogen und wird gleichzeitig mit den eigenen Erwartungen konfrontiert, die man an die Geschichte einer Frau hat, die über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken muss. Vor allem mit dem Ende mag sich nicht jeder anfreunden können – es kommt umso härter daher, weil man sich von Heddas Irrwegen auch noch so schrecklich amüsant unterhalten fühlt. Das alles zusammen macht Lotta Elstads Buch erhellend und wichtig in einer Zeit, in der zunehmend wieder einen Trend zum angepassteren, weniger selbstbestimmten Frauenbild Einzug hält.
Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.
Stefanie de Velasco „Kein Teil der Welt“
Nach dem großen Erfolg ihres Debütromans „Tigermilch“ stürzt Stefanie de Velasco sich erneut in das Leben einer jungen Protagonistin. Sie erzählt die Geschichte von Esther, die in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehova aufwächst. Mit ihren Eltern ist sie aus dem Rheinland kurz nach der Maueröffnung nach Ostdeutschland gezogen, in die ehemalige Heimat des Vaters, um dort mit der noch kleinen Gemeinschaft einen neuen Königreichssaal zu bauen und neue Mitglieder für die Gemeinde zu gewinnen. Esthers Gedanken wandern immer wieder zurück in die Vergangenheit, zu ihrer ehemals besten Freundin Sulamith. Die beiden lernen sich im Kindesalter kennen, als Sulamiths Mutter Lidia zur Gemeinde stößt.
Während Esther ihr Leben in der Isolation der Glaubensgemeinschaft lange nicht hinterfragt, wird Sulamith als Teenager immer rebellischer. Erst als die Situation in einem dramatischen Schicksalsschlag eskaliert und Esther sich von ihren Eltern zum Umzug gezwungen sieht, fängt auch sie an, sich in einem Paralleluniversum gefangen zu fühlen. Gleichzeitig findet sie heraus, dass es auch in ihrer eigenen Familie tiefgreifende Geheimnisse gibt, die man sich weigert mit ihr zu teilen. Das Gefühl, so nicht mehr leben zu können wird immer stärker, aber eine Abkehr von der Glaubensgemeinschaft bedeutet einen dauerhaften Bruch mit der eigenen Familie.
Stefanie de Velasco weiß wovon sie schreibt. Sie wuchs selbst bei den Zeugen Jehova auf und entschied sich mit 15 Jahren für den Ausstieg. Ihr Portrait der Glaubensgemeinschaft zeichnet ein radikales, wenig einladendes Bild, das einer Gemeinschaft, die von Angst, Kälte, Mißtrauen und Realitätsverweigerung geprägt ist. Gleichzeitig ist „Kein Teil der Welt“ eine kraftvolle, mitreißende, liebevoll erzählte und nicht zuletzt spannende Coming-of-Age Geschichte die zeigt, dass die Bedürfnisse junger Menschen speziell und allgemeingültig zugleich sind.
Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.
Margaret Atwood „Die Zeuginnen“
34 Jahre nach Erscheinen ist Margaret Atwoods Roman „Der Report der Magd“ ein Klassiker der feministischen Literatur und diente als Vorlage für die Erfolgsserie „The Handmaid’s Tale“. Während die erste Staffel sich noch an der Romanvorlage orientierte, spinnen Staffel zwei und drei die Geschichte eigenständig fort. Nun hat Margaret Atwood das Bedürfnis verspürt, selbst ihren Teil zur Fortsetzung beizutragen. „Die Zeuginnen“ setzt nicht unmittelbar den „Report der Magd“ fort, sondern lässt drei Frauen zu Wort kommen, die jede auf unterschiedliche Weise eine Rolle beim Zusammensturz der repressiven Republik Gilead spielen werden.
Eine von ihnen ist Tante Lydia, die das „Haus Ardua“ leitet und damit die Ausbildung weiterer „Tanten“ überwacht. Wer die Serie gesehen hat, für den wird Tante Lydia stets mit dem Gesicht von Ann Dowd verbunden sein, die uns alle mächtig das Fürchten gelehrt hat. Was Tante Lydias eigentlicher Plan ist, kommt dafür umso überraschender. Dann gibt es da noch zwei junge Frauen, eine wächst in Gilead auf, eine in Kanada. Ihr Schicksal stellt sich als eng miteinander verwoben heraus.
Im Vergleich zum „Report der Magd“ zieht Margaret Atwood die Spannungsschraube in „Die Zeuginnen“ mächtig an. Man bekommt fast den Eindruck, die Mitarbeit an der extrem auf Spannung ausgerichteten Serie habe sie erzähltechnisch beeinflusst. Am Ende kommt es zu einem fast schon zu Action geladenen Showdown, an dessen Ende auch das Ende von Gilead steht. Bis dahin aber lehrt Atwood uns wieder subtil das Fürchten durch die Beschreibung einer Gesellschaft, in der Frauen keinerlei Rechte haben. „Der Report der Magd“ mag nach wie vor das stärkere Buch sein, wer es gelesen hat, wird um die Lektüre von „Die Zeuginnen“ aber nicht drum herum kommen.
Erschienen bei Piper/Berlin Verlag.
Dana von Suffrin „Otto“
Wenn Eltern alt und krank werden, drehen die familiären Gefüge sich um. Plötzlich müssen Kinder die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen. So passiert es auch Timna und ihrer Schwester Babi, als ihr Vater ins Krankenhaus kommt und fortan nicht mehr alleine in seinem Reihenhaus leben kann. Otto war schon vor seiner Krankheit kein einfacher Mensch, aber je mehr er sich in Abhängigkeit zu seinen Töchtern und seiner neuen Pflegerin fühlt, umso schwieriger wird es mit ihm.
Otto stammt aus Siebenbürgen, er ist pensionierter Ingenieur, ein echter Patriarch der alten Schule, ein unerträglicher Besserwisser, einer der immer etwas zu meckern hat. Er ist stolz auf seine jüdische Herkunft und verzweifelt immer wieder an seinen Töchtern, die sich ihrer jüdischen Identität so viel weniger verbunden fühlen. Timna taucht ein in ihre Familiengeschichte, denn Otto möchte sie gerne festgehalten haben, bevor er stirbt. Am Ende wird es aber ihre ganz eigene, zwischen jüdischer Tradition, Familienurlauben in Israel und dem Leben in einem Siebziger-Jahre-Traum von Penthouse im Olympischen Dorf in München. Und mit dem Sterben lässt Otto sich schließlich auch Zeit, offensichtlich möchte er lieber alle noch ein bisschen auf Trab halten.
Dana von Suffrin erzählt die Geschichte einer Familie, die gleichzeitig schräg, manchmal schwer zu ertragen, urkomisch und todtraurig ist. Sie erzählt vom Leben, vom Tod, vom Überleben, von der Suche nach der eigenen Identität und der Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit. Ganz schön viel auf so wenig Seiten. Man ist am Ende durchgerüttelt, erschüttert, belustigt und begeistert.
Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.