Four Tet, Tempodrom Berlin, 25.11.2023: Vier Stunden durchgetanzt

Zweimal hat die Pandemie ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, nun hat der britische Electro-Künstler Kieran Hebden aka Four Tet endlich wieder in Berlin gespielt. Zwar nicht, wie damals ursprünglich geplant, mit der Show, für die das Künstlerkollektiv Squidsoup eine einzigartige Installation entworfen hat und bei der das Publikum sich zwischen herabhängenden Licht-Tentakeln bewegt. Dafür aber in bester DJ-Tradition ganze vier Stunden, und das zur besten After-Work-Zeit von 20.00 bis 24.00 Uhr. Da kann man doch ganz wunderbar den Abend mit beginnen, bevor man zur nächsten Veranstaltung weiter zieht, oder zur späten Stunde auf dem Heimweg kurz rein droppen, es ist ja nicht so leicht mit dem übervollen Kulturkalender im November. Oder man kann den ganzen Abend mit dabei sein, vom ersten Beat bis zum letzten Ton. Das empfiehlt sich besonders, wenn man wie ich 20+ Jahre nicht im Club war und endlich mal wieder wissen möchte, wie sich das anfühlt. Kann man im derart fortgeschrittenen Alter überhaupt noch vier Stunden lang durchtanzen? Und möchte man das überhaupt, oder wird es irgendwann doch zu anstrengend oder gar langweilig? Ich wollte es wissen und bin losgezogen in dem festen Vorhaben, vier Stunden lang mit Four Tet zu tanzen.

20.00 Uhr

Beinah hätte es nicht geklappt mit dem ersten Ton, denn anstatt bei der Gästeliste stelle ich mich erst einmal zehn Minuten am Trouble Shoot Counter an und wundere mich, warum jeder einzelne vor mir so ein ausgiebiges Problem zu haben scheint. Ja, zum Jahresende hin sind die geistigen Kapazitäten doch ein wenig erschöpft. Umso mehr freue ich mich darauf, vier Stunden lang alles hinter mir zu lassen und mich ganz in der Musik zu verlieren, und so schaffe ich es schließlich doch noch, meinen Platz auf der Tribüne des Tempodroms zu finden, wenige Minuten, bevor Kieran Hebden unauffällig hinter sein Pult schlüpft. Jenes steht in der Mitte des Innenraumes, direkt unter der hohen Kuppel, was sich im Laufe des Abends als lichttechnischer Geniestreich entpuppt (wenn schon keine Glühbirnen-Tentakel von der Decke baumeln). Die erste Stunde lang ist das Tempodrom jedoch erst einmal in einheitlich blaues Licht gehüllt, Hebden selbst hebt sich davon nur durch den Schein seiner Tischlampen ab. Das Publikum tröpfelt langsam herein. Auf der Tribüne um mich herum sitzen alle, nippen an Getränken und wippen mit den Köpfen. Ob auch hier wohl bald alle zum Tanzen aufstehen werden? Im Block nebenan stehen die ersten schon. Habe ich etwa die Langweiler-Ecke erwischt? Ein leichter Anflug von Panik, ich bin doch zum Tanzen gekommen! Die Beats, die Hebden nach und nach aufbaut und miteinander verwebt, bringen meine Beine schon mächtig zum Zucken. Nur wenige Minuten später stehen die ersten von ihren Plätzen auf und tänzeln stattdessen hinunter in den Gang, vorne zur Balustrade. Super Idee, bin dabei. Hier kann man lässig im Takt wippen und von oben aus beobachten, wie Hebden an den Reglern schraubt und der Innenraum sich zügig füllt. Die ganze erste Stunde setzt er fast ausschließlich auf Beats, Harmonien streut er nur spärlich ein, lässt sich passend zur Länge des Sets ausgiebig Zeit für den Aufbau. Der Platz im Gang am Geländer erfreut sich inzwischen großer Beliebtheit, hinter mir tanzt bereits die zweite Reihe. Schön ist das, so kann ich es ein Weilchen aushalten.

21.00 Uhr 

Bäm! Exakt mit Schlag des Stundenwechsels ergießt sich rotes Licht über die tanzende Menge. Nicht nur das Licht wird nach und nach reicher und vielschichtiger, auch der Sound. Ein Nelly Furtado Sample, dann der Song „Baby“ aus dem aktuellen Four Tet Album „Sixteen Oceans“, den die junge Dame neben mir, im schwarzen Catsuit und mit fluoreszierenden Armbändern behangen, mit lautem Quietschen und noch ausladenderen Bewegungen quartiert. Währenddessen stampfe ich immer noch, die Hände in den Hosentaschen vergraben, hauptsächlich von einem Fuß auf den anderen. Bin ich in all den Jahren, in denen ich mehr auf Konzerten und so gut wie gar nicht mehr in Clubs war, etwa eine schüchterne Tänzerin geworden? Beim Remix von „Rumble“ von den beiden Four Tet Kumpels Skrillex und Fred again rutschen die Hände dann fast schon automatisch aus den Hosentaschen. Der Sound, das Licht, immer mehr Layers und immer mehr Scheinwerfer, die Hebden einrahmen und sich rhythmisch über die Menge ergießen. Das ist so magisch, dass mein Running-Brain langsam anfängt, sich Sorgen zu machen. Werde ich mich überhaupt losreißen können, um ein Getränk zu holen und auf Toilette zu gehen? Oder wird man mich am Ende des Abends erschöpft und dehydriert vom Boden auflesen müssen? In einer Mischung aus „Zum Glück“ und „Leider“ kommt die Security mir zur Hilfe und fängt an, erbarmungslos die Leute aus den Gängen zu vertreiben und auf ihre Plätze zu verweisen. Gut, das ist offensichtlich ein Zeichen, und so reiße ich mich los, um schnell Toilette und Bar aufzusuchen – da dürfte jetzt ja nicht viel los sein, wer verlässt schon freiwillig den Saal, wer könnte es ertragen, auch nur eine Note, einen Beat zu verpassen? Zu meiner Überraschung herrscht draußen fast genauso viel Partystimmung wie im Saal, überall Menschen, Schlangen an der Bar, es gibt Popcorn – und holt dort etwa jemand seine Jacke von der Garderobe, um schon wieder zu gehen?! Ich erledige im Stechschritt, was ich zu erledigen habe und husche wieder zurück, diesmal brav an den mir bestimmten Platz, aber das ist jetzt auch egal, niemand sitzt zu diesem Zeitpunkt mehr. 

22.00 Uhr

Das Paar neben mir, das sich bis dato eher stoisch aufs Tanzen konzentriert hat, liegt sich plötzlich wild knutschend in den Armen. Ein etwas überraschender Plot Twist. Werde ich gerade etwa Zeugin einer frisch aufkeimenden Romanze? „Schatz, weißt du noch, wie wir uns zum ersten mal bei der 4 Stunden Four Tet Show geküsst haben?“ Awwww! Sobald die beiden den Dreh einmal raus haben, wollen sie gar nicht mehr aufhören, weshalb ich ein Stück zur Seite tanze und derweil amüsiert beobachte, wie das Security Personal erneut die Tanzenden in den Gängen zusammen kehrt und zurück an ihre Plätze schickt. Die leuchtende junge Frau im Catsuit gehört dabei zu den besonders Hartnäckigen – nur wenige Minuten, nachdem die Securities ihr den Rücken zugekehrt haben, steht sie schon wieder am Geländer und wird nicht müde, das Spiel zu wiederholen. Wie ein Kleinkind, das durch die Supermarktgänge fetzt, sobald man es von der Hand lässt, obwohl es weiß, dass es gleich wieder eingesammelt wird. So denke ich, während ich mich kurz hinsetze und staune, wie der Bass die Sitze zum Vibrieren bringt und sanft meinen Hintern massiert. Es geht langsam auf 23 Uhr zu, Hebdens Pult gleicht jetzt einem Ufo, das von verschiedenfarbigen, Laserschwert-artigen Lichtsäulen umrahmt wird. Manchmal zuckt das Licht so, dass sein Pult vor meinen Augen zu schweben scheint, die Beats brettern durch und werden immer wieder von den Four Tet typischen, konträr zarten Klängen durchwoben. Als würde man durch einen pulsierenden Zauberwald tanzen… ich habe nichts genommen, ich schwöre! 

23.00 Uhr

Endspurt! Nur eine Stunde noch! Ich bin schon ein bisschen traurig, dass es bald vorbei ist. Die Spotlights treffen jetzt auf kleine Discokugeln, die von dem Rund über Hebdens Pult herabhängen und werfen Unmengen von Sternen über die Tanzenden – deren Menge sich zu diesem Zeitpunkt kaum ausgedünnt hat, im Gegenteil. Zeilen aus „It’s A Fine Day“ von Opus III erklingen. Der Song, zu dem mein inzwischen verstorbener bester Freund und ich in unserer Jugend davon geträumt haben, wie wir später einmal zusammen auf Raves gehen werden. Ich nehme, wie ich mir vorgenommen habe, einmal pro Stunde mein Handy heraus und poste eine Story von dem Moment. „Schwebst du?“ antwortet darauf ein Freund, und er hat keine Ahnung, wie richtig er damit liegt. Bis zum Schluss lässt der Rhythmus nicht nach, aber der Sound wird weicher, das Licht wärmer, bis Donna Lewis‚ Superhit „I Love You Always Forever“ den Höhepunkt bildet. Die Menge badet in einem rosa Meer und weißen Sternen, und im Licht eines frontal auf ihn herab scheinenden, gelben Scheinwerfers tanzt ein junger Mann derart beseelt, dass es mir die Tränen in die Augen treibt. 

23.58 Uhr

Es ist geschafft. Der Beat verklingt und wird abgelöst vom Jubel der Menge, der sich unter sphärische Klänge und Vogelgezwitscher mischt. Kieran Hebden holt sich seinen wohlverdienten Applaus ab und winkt einmal rundum in die Menge. Er beugt sich unter das Pult, holt einen Baumwollbeutel hevor, hängt ihn sich über die Schulter und lässt sich aus dem Saal begleiten. Er hat den ganzen Abend kein einziges Wort gesprochen, noch irgendwie sonst die Menge animiert, ist einfach nur konzentriert und augenscheinlich entspannt seiner Arbeit nachgegangen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, dürfte es kaum jemanden geben, der diesen Abend nicht irgendwie verzaubert verlassen hat, egal ob man jetzt eine Stunde, zwei oder die ganze Zeit dabei war. Zehn Minuten später sitze ich schon in der S-Bahn und merke erst dort, als ich mich hinsetze, wie sehr mir die Füße und Beine weh tun. Müde sind sie seitdem nicht, sie zappeln eher sanft vor sich hin, als könnten sie es kaum abwarten, bald wieder einmal vier Stunden mit Four Tet zu tanzen.