Filmkritik: „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos

Bella Baxter, unsere Hauptfigur, die ein wenig an Frankensteins Monster erinnert, lässt sich vielleicht mit einem modernen, weiblichen “Forrest Gump” vergleichen. In “Poor Things”, dem neuen Film von Yorgos Lanthimos („The Favourite“„The Lobster“) dürfen wir dabei zusehen, wie unsere Protagonistin, porträtiert von Emma Stone, die Welt mit völlig unbefleckten Augen und einer herzerwärmenden Naivität ganz neu für sich entdeckt. Dabei greift Giorgos Lanthimos zum Glück nicht auf das Stilmittel zurück, seiner Figur eine geistige Behinderung anzudichten, sondern erzeugt den Effekt der außergewöhnlichen Entwicklung Bella Baxters als das Versuchsobjekt eines verrückten Wissenschaftlers, als welches sie langsam ein eigenes Bewusstsein erlangt. Dabei muss man als Zuschauer*in für sich selbst entscheiden, ob einem vor diesem Hintergrund die Darstellung des geistig zurückgebliebenen Verhaltens durch eine nicht behinderte Schauspielerin als angebracht erscheint oder nicht. Zum Glück dürfen wir dabei zusehen, wie Bella Baxter sich imemr weiter entwickelt, was letztendlich den zunehmenden Reiz der Figur ausmacht.

Im England des 19. Jahrhunderts beginnt die Geschichte (die auf dem gleichnamigen Roman von Alasdair Gray basiert) damit, dass dem exzentrischen Arzt und Wissenschaftler Godwin Baxter (Willem Dafoe) an der Themse der Körper einer jungen Frau vor die Füße gespült wird, die sich zuvor von der Londoner Tower Bridge gestürzt hat. In ihrem Bauch trägt sie ein ungeborenes Kind und in einer komplexen Operation, die so noch nie zuvor durchgeführt wurde, tauscht Godwin Baxter das Gehirn des Babys mit dem der jungen Frau aus und erweckt sie durch Elektroschockbehandlung wieder zum Leben. Er tauft das Ergebnis dieses Versuches Bella und lässt diese über ihre Vergangenheit und Herkunft im Dunkeln. Doch auch wenn Bella zu Beginn über den geistigen Verstand einer Neugeborenen verfügt und sie erst wieder lernen muss ihr Gehirn und ihren Körper zu koordinieren, entwickelt sie sich schnell, und somit wächst auch das Verlangen nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung.

Zuerst einmal ist “Poor Things” unglaublich stimmungs- und stilvoll inszeniert. Die düstere, humorvolle Atmosphäre mit den künstlichen, überzeichneten Kulissen erinnert an “Die Addams Family”, oder Tim Burtons “Wednesday” und “Beetlejuice”. Der Film besticht natürlich auch durch seinen Star Cast und bietet mal wieder Größen des Kinos wie Emma Stone, Willem Dafoe und Mark Ruffalo Platz auf der Leinwand. Die Art, wie Emma Stone als Bella Baxter für sie neue Themen wie Empathie, Sozialismus, Sexualität und Prostitution entdeckt und erforscht, eröffnet einem jeden selbst völlig neue Perspektiven.

In “Poor Things” geht es um Eigenständigkeit, Selbstbestimmung und Meinungsbildung. Egal ob sie ihr wohlgesonnen sind oder nicht, keiner der Männer in Bella Baxters Leben gesteht ihr, aufgrund ihrer medizinischen Vorgeschichte, den Status eines vollwertigen Menschen zu. Sämtliche ihrer männlichen Bezugspersonen betrachten es als ihr Recht, Besitzansprüche zu erheben, sie meinen ständig, es besser wissen zu können. Eine Problematik, die trotz ihrer filmischen Abstrahierung und Überzeichnung durchaus aktuell ist und “Poor Things” zu einem herausfordernden, aber am Ende lohnenswerten Kinoerlebnis macht.

“Poor Things” startet am 18. Januar 2024 in den deutschen Kinos.

Foto © Searchlight Pictures