Filmkritik: „Emilia Pérez“ von Jacques Audiard

Man kann Jacques Audiard durchaus als einen kühnen Regisseur bezeichnen. Der inzwischen 72 Jahre alte Franzose hat sich mit seinen Filmen schon immer in Welten und Gebiete vorgewagt, die von seinen eigenen kaum weiter entfernt sein könnten. Jeder seiner Filme ist auf seine eigene Art ein Wagnis. Audiard scheut sich weder vor ungewöhnlichen Settings noch vor Figuren, die gefühlt oft knapp am Klischee vorbei schrammen. Aber sein außergewöhnliches Gespür für filmisches Handwerk und seine Sensibilität für Geschichten und Charaktere lassen einen regelrecht atemlos staunen, wie kurssicher er nahezu unmögliche filmische Schiffe in sicheren Gewässern hält. Sein neuer Film „Emilia Pérez“ ist dafür das beste Beispiel.

So unterschiedlich seine Geschichten auch sind, ein immer wieder kehrendes Motiv ist die oft unfreiwillige Begegnung mit dem organisierten Verbrechen und die damit einhergehende Faszination. In „Der Geschmack von Rost und Knochen“ entdeckt eine Waltrainerin, die bei einem Unfall beide Beine verloren hat, ihren furchtlosen Charakter an der Seite eines Bare-knuckle-Kämpfers. In „Dämonen und Wunder“ gerät eine Zweckgemeinschaft von Flüchtlingen aus Sri Lanka n einer französischen Kleinstadt mitten in einen Bandenkrieg. In seinem neuen Film „Emilia Pérez“ steht nun der Boss eines mexikanischen Drogenkartells im Mittelpunkt, der ein neues Leben beginnen möchte, als die Frau, die er schon immer war. Und um alles noch ein bisschen wilder zu machen als es ohnehin schon klingt, hat Jacques Audiard aus dem Ganzen ein Musical gemacht. Es gibt also so einiges, woran „Emilia Pérez“ scheitern könnte.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Anwältin Rita (Zoe Saldaña), die ihren Alltag damit zubringt, im Auftrag ihrer Kanzlei meist eindeutig schuldigen Kriminellen zum Freispruch zu verhelfen. Von zunehmend schlechtem Gewissen geplagt, zögert sie keinen Moment, als sich ihr ein unerwarteter Ausstieg bietet: Manitas del Monte (Karla Sofía Gascón), der berühmt-berüchtigte Boss eines Drogenkartells, beauftragt sie für eine beachtliche Summe, für ihn den Übergang in ein neues Leben zu regeln. Manitas del Monte möchte endgültig die nötigen Korrekturen an seinem Körper vornehmen zu lassen, um endlich als Emilia Pérez zu leben, die Frau, die er schon immer war. Rita verschafft ihm nicht nur den Kontakt zu einem vertrauenswürdigen Chirurgen (die erste und sehr wahrscheinlich einzige Szene der Filmgeschichte, in der man jemals das Wort „Vaginoplastic“ gesungen hören wird), sondern hilft Emilia schließlich auch, einen Strich unter ihre kriminelle Vergangenheit zu ziehen. Manitas Tod wird vorgetäuscht, seine Frau Jessi (Selena Gomez) und die beiden gemeinsamen Kinder in der Schweiz in Sicherheit gebracht. Rita hält ihr Werk für getan und schlägt mithilfe des verdienten Geldes selbst ein neues Kapitel ihres Lebens auf. 

Doch plötzlich taucht Emilia wieder auf. Jedoch nicht um Rita, wie diese fürchtet, zu beseitigen und damit letzte Spuren zu verwischen. Stattdessen hat sie festgestellt, dass sie nicht ohne ihre Kinder leben kann und bittet Rita, den Kontakt wieder herzustellen. Als angebliche Schwester des Verstorbenen Manitas kehrt Emilia in das Leben von Jessi und den Kindern zurück. Um Buße zu tun für ihre früheren Untaten, gründet sie eine Hilfsorganisation, die den Verbleib von Opfern des organisierten Verbrechens aufklärt und so den Hinterbliebenen die Möglichkeit bietet, Aufklärung und Heilung zu erfahren. Aber ganz so leicht lässt sich die Vergangenheit doch nicht abschütteln. Und manche Charaktereigenschaften, so müssen Emilia und ihr Umfeld schmerzlich erfahren, bleiben losgelöst von der geschlechtlichen Identität.

Es könnte wie gesagt so einiges schief gehen in diesem ohne Frage chaotischen, manchmal etwas strukturlosen, stets wild und schamlos überbordendem Film. Aber das meiste, und das ist, gemessen daran was alles in gut zwei Stunden Laufzeit passiert, wirklich erstaunlich, funktioniert. In einer Zeit, in der die Filmbranche mehr denn je um Authentizität und korrekte Repräsentanz kämpft, steht an oberster Stelle die Frage, ob es einem weißen Cis-Mann zusteht, die Geschichte einer mexikanischen Transfrau zu erzählen. Dass diese Frage sich schnell verflüchtigt, liegt vor allem an dem Interesse, das Jacques Audiard seinen Figuren entgegen bringt. Das fühlt sich, bei all der visuellen Überdrehtheit, mit der er in „Emilia Pérez“ arbeitet, stets tief und ehrlich an. 

Letztendlich bedeutet es auch viel, wenn die männlichen, privilegierten Vertreter der Branche ihre Augen und ihr Herz für Menschen und Themen außerhalb ihres natürlichen Lebens- und Wirkungskreises öffnen. Und wir als Zuschauer*innen sind bereichert um die Begegnung mit einer so großartigen Schauspielerin wie Karla Sofía Gascón, die fortan hoffentlich noch sehr oft auf der Leinwand zu sehen sein wird. Dieser Mut und diese Offenheit haben Audiard schon immer ausgezeichnet und machen sich auch in „Emilia Pérez“ bezahlt. Die Art, wie er das Filmemachen beim Schopf packt, ist so unmittelbar und lustvoll, dass man dem Film die eine oder andere dramaturgische Schwäche gern verzeiht. Und die großartig choreografierten Musicalszenen fügen sich so erstaunlich in das Gesamtbild ein, dass man nahezu vergisst, wann gesungen wird und wann nicht.

Neben Karla Sofía Gascón sind die Darbietungen von Zoe Saldaña und vor allem Selena Gomez so kraftvoll, dass der Eindruck entsteht, alle haben sich von der Begeisterung Audiards mitreißen lassen. Das kann man auch als Zuschauer*in tun, mutig und mit bestem Gewissen. 

www.emilia-perez.de