Emotionale Dekonstruktion versus ökologische Nummernrevue: Die Premiere von „Duato I Shechter“ am Staatsballett Berlin

Hofesh Shechter „The art of not looking back“: Harmonie darf nicht sein


Es beginnt mit einer Erzählung, an deren Ende die emotionale Prämisse steht: „My mother left me, when I was two“. Dann ein Schrei, eine Kollage menschlicher Geräusche, die aus den dunklen Abgründen der Seele zu kommen scheinen. Die sechs Tänzerinnen des Staatsballett Berlin nehmen sie auf und verarbeiten sie, als wären ihre Körper unmittelbar an die Klänge gekoppelt. Eine halbe Stunde lang lässt der israelische Choreograf Hofesh Shechter sie in seiner Choreografie „The Art Of Not Looking Back“ den Schrecken der vielleicht größten Gewalttat, die ein Mensch erleben kann, durchleben: den frühen Verlust der Mutter. Mit allen Facetten, die der Schmerz des Verlassenwerdens mit sich bringt. Trauer, Hoffnung, Selbsthass, Ekel. Alles fließt durch die Körper der Tänzerinnen und bricht sich mit brachialer Gewalt Bahn. Die Qualität der Bewegungen ist dabei von verstörender Schönheit. Shechter überschreitet in seiner Arbeit gerne die Grenzen des guten Geschmacks. Er lässt die Protagonistinnen ihre Körper bis zur Unerträglichkeit schütteln, sie heben ihre Kleider, entblößen ihre Höschen, schieben das Becken vor und zurück, lassen die Zungen heraushängen. Und dann baut er wieder diese Momente zärtlicher Harmonie auf, in denen die Schönheit der Musik und der Bewegung überwältigend sind, nur um sie immer wieder bösartig zu dekonstruieren. Es darf keine Harmonie sein, wo kein Boden ist, der sie nähren kann.
Durch den Wechsel von Zartheit und Brutalität befindet man sich als Zuseher in einem Zustand permanenter Anspannung. Es ist schwer, die knapp 30 Minuten zu genießen, aber entziehen kann man sich ihnen auf keinen Fall. Obwohl „The Art Of Not Looking Back“ bereits 2009 beim Brighton Festival uraufgeführt wurde, wirkt Shechters Choreografie aktueller und ästhetisch revolutionärer als das Meiste, was das Genre des modernen Tanzes im Moment so her gibt. Obendrauf gelingt es ihm, die eher seltene Brücke zwischen Emotion und Tanz zu schlagen. So modern er auch sein mag, Tanz in dieser Form kommt nie ohne eine starke technische Komponente aus, da besonders klassische Tänzer die Sorge um ihre Körper nie ganz los werden. Shechter kreiert mit seiner Arbeit perfekt die Illusion, dass die Tänzerinnen bereit sind, sämtliche Formen aufzubrechen und über ihre körperlichen und emotionalen Grenzen zu gehen. Eine gewiss polarisierende Arbeit, sodass es nahezu verwunderlich ist, mit welch ungebrochenen Begeisterungsstürmen sie an der Premiere in der Komischen Oper Berlin entgegen genommen wurde. Hofesh Shechter schafft es, einen für ein paar Minuten komplett aus der persönlichen Comfort Zone herauszuholen – und dass man jede Minute davon bedingungslos genießt.

Nacho Duato „Erde“: Ökologische Nummernrevue mit Pseudo-Tiefgang

Die zweite Hälfte des Abends: Die Uraufführung von Nacho Duatos „Erde“. Der vermeintliche Höhepunkt kann eigentlich keiner mehr sein, jetzt wo man so zufrieden aufgerüttelt ist. Das in Berlin inzwischen salonfähige Duato-Bashing mal ganz Beiseite gelassen – der umstrittene Leiter des Staatsballett Berlin ist in vielen Dingen besser als sein Ruf. Seine Neuinterpretationen von Klassikern wie zuletzt dem „Nussknacker“ zeigen, was für ein gutes Händchen er für Charaktertänze hat. Die Überzeichnung von Charakteren, die Weiterführung gewohnter Bewegungsmuster des klassischen Balletts, darin ist er zweifellos gut. Was nicht zu seiner Stärke gehört ist das Vermitteln eigener Inhalte. Das zeigte sich schon in seinem Terror-Stück „Herrumbre“ und bestätigt sich mit „Erde“ wieder aufs Neue. „Erde“, wie der Name schon sagt, widmet sich dem Planeten, auf dem wir leben, dem wie wir mit ihm umgehen, wie wir ihn für unsere Zwecke ausbeuten. Die Bilder, die Duato dafür findet, liegen alle auf der Hand: ein mit Luft gefüllter Plastikfolienkubus. Pas de deux, bei denen mit Plastiktüten geraschelt wird und die Tänzerinnen Erstickung simulieren. Halbnackte Tänzer in Pelzmänteln, die diese am Ende wie verwundete Tiere von der Bühne tragen (wobei dieser Teil der Choreografie mit seinen Catwalk-Referenzen noch eindeutig der stärkste ist). Am Ende ein Wald, der an den Bühnenrand gerollt wird. Das ist alles irgendwie schick, wie die Tänzerin im fleischfarbenen Trikot am Ende zwischen den Bäumen verschwindet, das hat in seiner Ästhetik etwas von Lars von Trier. Aber „Erde“ bleibt stets an der Oberfläche. Statt den Ausdruck über die Körper der Tänzer zu suchen, arbeitet Duato mit Budenzauber, mit platter Symbolik und abgelutschten Klischees. In seiner Modernität wirkt die Choreografie trotzdem schmerzhaft altbacken und spätestens als der Saal von einem Laser-Gitter erleuchtet wird, hat man endgültig das Gefühl, irgendwo in den 90er Jahren stecken geblieben zu sein. Nach der emotionalen Tour de Force, die man dank Shechter bereits hinter sich hat, kann man sich das gut angucken. Es hat ein bisschen den Flair einer gut gemachten Nummern Revue. Mehr aber auch nicht.

Trotzdem bleibt es insgesamt ein gelungener Abend, gerade die Kombination ergibt eine gute Balance aus hoher Kunst und Unterhaltung. Ob es so gedacht war, sei dahin gestellt, aber so betrachtet funktioniert es. Und um es abschließend auf den Punkt zu bringen: Hofesh Shechters Arbeit ist derart brillant, dass man nicht zögern sollte, eine Karte zu erwerben. Diese 30 Minuten werden auf ewig Bestand haben.

Alle weiteren Vorstellungstermine und Karten gibt es hier.

Bericht: Gabi Rudolph

Fotos: Fernando Marcos

www.staatsballett-berlin.de