Es gibt diese dunklen, kalten Freitag Abende, da fällt es einem körperlich schwer, das Haus zu verlassen, just in dem Moment, in dem die Kinder sich in ihren wahnsinnig kuscheligen Flanellpyjamas Richtung Bett bewegen. Und wenn man dann auch noch bereits vor der Halle in einem unübersichtlichen Pulk von Menschen zu stehen kommt und eine geschlagene halbe Stunde in der Kälte warten muss, bevor man endlich überhaupt dort angekommen ist, wo man hin möchte, gerät man leicht in Versuchung, auf dem Absatz umzudrehen und direkt wieder nach Hause zu gehen. Zum Glück enden diese Abende manchmal damit, dass man wenige Stunden später verstrahlt stolpernd den Rückweg antritt und sich vor seinem inneren Schweinehund verneigt, weil man ihm die Stirn geboten hat.
Als ich die Columbiahalle endlich von innen sehe, ist es dort bereits so voll, dass man sich fragt, wo denn die ganzen Menschen hin wollen, die zu diesem Zeitpunkt noch draußen vor der Tür warten. Offensichtlich geht es aber immer noch ein bisschen enger. Das Licht ist gedimmt, die Stimmung im Publikum bereits seltsam aufgepeitscht, obwohl noch gar nichts passiert. Hier und da wird Pfeifen und Grölen laut, das in lautes Gekreische übergeht, als die Dunkelheit sich über die Menge legt. Ein mysteriöses Intro aus Kehlkopfgesang, Orgelklängen und Geräuschkulisse, all das zusammen den Eindruck einer Voodoomesse vermittelnd, erklingt für gute zehn Minuten. Der Beginn der Show kommt schließlich daher wie ein Schlag in die Fresse. Bühne und Publikum explodieren gleichermaßen. „DJ Hi-Tek will fuck you in the ass“ tönt es aus den Boxen und der Geräuschkulisse nach scheint die Menge bereit und willig zu sein. Eine Mischung aus Neugier, Angst und einem leicht erregten Kribbeln macht sich breit. Ninja und Yolandi tragen im Neonlicht leuchtende Jogginganzüge. Sie brechen über Berlin ein wie ein Unwetter, gnadenlos, brutal und faszinierend zugleich. Ein Naturschauspiel aus Visuals, Licht und derben Beats. Sofort wird klar: Die Antwoord wissen genau was sie tun. Nichts an diesem Abend scheint dem Zufall überlassen. Alles ist auf eine nahezu verstörende Weise perfekt. Zwei Gogo Girls kommen dazu. Sie werfen auf den ersten Blick unkontrolliert mit ihren Armen und Beinen um sich. Auf den zweiten wird klar, sie tun dies exakt synchron. Kostüme werden in Sekundenschnelle gewechselt, im Falle von Ninjas Hosen auch gerne mal vor Publikum. Eine Dame in goldenen Shorts betritt kurz die Bühne, ihre einzige Aufgabe ist es, rhythmisch ihren Hintern zu bewegen. „Twerken“ nennt man das wohl heutzutage. Und selbst hier hat man das Gefühl, man habe noch nie ein perfekteres, formvollendeteres Popowackeln gesehen.
Von der ersten bis zur letzten Minute ist die Show von Die Antwoord ein an Energie, Originalität und Faszination kaum zu übertreffendes Spektakel. Es ist eine Reise in eine eigene Welt, verstörend und düster, Harmonie sucht man vergeblich, braucht man aber in dem Moment auch nicht. Die Beats, die Raps, der Gesang und die Videos auf der Leinwand, alles ist auf atemraubende Weise brachial, manchmal möchte man fast flüchten, kann aber nicht, weil die Faszination zu groß ist (und man zusätzlich selbst im hinteren Drittel noch eingekeilt in einem schwitzenden, hüpfenden Pogomob steht).
Trotzdem, und das ist es, was Die Antwoord so besonders macht, fehlt bei all der visuellen und akustischen Brutalität auch nie der Humor. Über allem liegt ein Augenzwinkern, mal mehr, mal weniger subtil, wenn aufblasbare Phantasiewesen mit Riesenpenissen die Bühne betreten oder die superben Gogo Damen Katzenohren zu ihren, nun ja, Catsuits tragen. Und am Wichtigsten: man mag die Akteure auf der Bühne. Der Wille zur Unterhaltung ist so groß, man möchte sich vor ihnen niederknien, mit welcher Energie und Begeisterung sie sich und das Gesamtkunstwerk Die Antwoord präsentieren.
Auf dem Nachhauseweg wirken die Straßen noch düsterer und verlassener als sonst. Dafür klingen die Schritte der anderen auf dem Gehweg doppelt so laut. Ungefähr so, stelle ich unerfahrenes Wesen mir vor, muss es sich anfühlen, wenn man nach 20 Stunden auf Drogen durch feiern endlich nach Hause kommt. 75 Minuten mit Die Antwoord reichen mir für diesen Erfahrungswert vollkommen. Und so krieche ich noch vor Mitternacht zu den Flanellpyjamakuschelkindern ins Bett und freue mich über die heimische Harmonie. Und darüber, dass es immer noch Bands gibt, die es schaffen, mir eine Welt zu öffnen, die ich so noch nicht kannte.
War dabei: Gabi Rudolph