DEADLETTER: „Du musst bereit sein, vor niemandem zu spielen und darfst es nicht für selbstverständlich halten, wenn du vor jemandem spielst“

Das erste Mal habe ich von DEADLETTER im Jahr 2022 gehört, als ich mehr zufällig ein Ticket für ihr Konzert in Nottingham bekommen habe. Ich wusste nichts über die Band, keine Ahnung, welches Genre, welchen Sound sie hatten oder wie alt sie waren. Aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich mehr als angenehm überrascht war. Ihre ansteckende Energie in einem kleinen, dunklen Raum konnte ich nicht ignorieren und habe sie einfach genossen. Die Band, die aus den Tiefen von Yorkshire, England, stammt und sich in den Bars von London etabliert hat, hat ihren chaotischen Punk-Sound, der von einem reichen Songwriting getragen wird, verfeinert und ist jetzt bereit, ihn in die Welt hinaus zu tragen. 

Ehe ich mich versah, waren DEADLETTER in all meinen Playlists und fest auf meinem Radar. Als ich also die Möglichkeit hatte, mit Frontmann Zac Lawrence vor der Veröffentlichung ihres Debütalbums zu sprechen, habe ich natürlich ja gesagt. Nach einer Reihe großartiger Singles haben die Fans – inklusive mir – sehnlichst auf ein komplettes Album gewartet. Jetzt hat das Warten endlich ein Ende und „Hysterical Strength“ ist erschienen. Während die Band für eine ihrer vielen Europa-Shows in Berlin Halt machte, habe ich mit Leadsänger Zac via Zoom über so ziemlich alles gesprochen: vom Leben in London bis hin zur Inspiration für ihr Debütalbum.

Ich wollte als erstes fragen, warum ihr gerade dieses Bild für das Cover von „Hysterical Strength“ ausgewählt habt. Warum dieses Foto von Ian McDonald? 

Wir haben lange hin und her überlegt, und nur ein paar Wochen oder vielleicht ein paar Monate vor diesem Entscheidungsprozess hatten wir ein Shooting mit Ian McDonald gemacht, das wir im Norden, in einem kleinen Dorf namens Gromont, arrangiert hatten. Es bestand also die Möglichkeit, Fotos aus seinem Archiv zu verwenden, die er im Laufe der Jahre aufgenommen hatte. Und das war ein klares Ja für uns. Wir hatten bereits so viel Respekt vor ihm, sowohl als Mensch als auch als Künstler. Es schien einfach ein Selbstläufer zu sein. Wir haben also einige der alten Fotos durchgesehen, die er im Laufe der Jahre gesammelt hatte… es war ziemlich schnell entschieden, dass der Teil des Hochofens, der auf der Vorderseite des Albums zu sehen ist, das Cover sein würde. Ich weiß noch, dass ich, als ich es zum ersten Mal gesehen habe, nicht glauben konnte, dass es ein echtes Foto ist. Es sieht aus wie etwas, das man entweder digital erstellt oder gemalt hat. Es gab hat so ein Stanley-Kubrick-Feel, es sieht fast aus wie ein Teil der Kulisse von „2001 Odyssee im Weltraum“. Ich denke, wir haben richtige Kunstwerke geschaffen, die sehr gut zu einigen der Themen des Albums passen, wie auch Brutalität und Härte.

Vor diesem Album habt ihr schon fast ein ganzes Album an Material veröffentlicht. Aber ihr habt euch entschieden, für euer Debütalbum neu anzufangen. Es wäre ein Leichtes gewesen, einige Songs zu verwenden, von denen ihr wisst, dass sie beim Publikum gut ankommen. Aber das habt ihr nicht getan. Warum? Wolltet ihr einfach einen Neuanfang machen?

Nun, ich denke, das hat sicherlich eine Rolle gespielt. Aber ich glaube nicht, dass wir uns zu sehr in Nostalgietrips verlieren, wenn man das so sagen will. Vielleicht ist seit unseren Anfängen noch nicht genug Zeit verstrichen, als dass man es als Nostalgie bezeichnen könnte. Aber ich habe das Gefühl, dass die Geschwindigkeit, mit der wir Songs und Musik im Allgemeinen herausbringen, die Menge, die wir zusammen schreiben… es war einfach nicht nötig, auf etwas anderes zurückzugreifen. Zweitens denke ich, dass ich persönlich, und ich weiß, die anderen teilen diese Meinung, als Konsument über die Jahre immer das Gefühl gehabt habe, dass es aufregender ist, wenn man nur einen kleinen Teil des kommenden Albums vorab bekommt. Diese Aufregung, die sich aufbaut, wenn man sich die Songtitel ansieht und denkt: „Was wird das wohl sein?“ Wenn ich mich in die Lage eines Fans versetze, finde ich das aufregend.

Ich finde es immer interessant, wenn das zweites Album herauskommt und man genau hören kann, wo es nach dem vorigen ansetzt. Gibt es Songs auf dem Album, auf die du besonders stolz bist?

Ich bin vor allem auf das Gesamtwerk stolz. Aber wenn ich mich festlegen soll, dann denke ich, dass „Mother“ einer der Songs ist, den ich sehr aufregend fand, als ich den Text geschrieben habe. Als dann die Musik dazu kam, war ich sogar noch begeisterter davon. Und als wir dann das Musikvideo dazu gedreht haben und alle drei Elemente zusammenkamen – das lyrische Thema, die klanglichen Elemente und die visuelle Seite der Dinge – als Gesamtkunstwerk,bin ich wirklich stolz darauf. 

Ich habe einen Kommentar zu einem eurer Musikvideos gesehen, in dem eure Musik als „vertonte Poesie statt als Song“ beschrieben wurde. Ich denke, das fasst dein Songwriting gut zusammen. Was hat dich beim Schreiben für dieses Album beeinflusst – gab es irgendwelche Gedichte, Bücher oder andere Songwriter, von denen du dich hast inspirieren lassen?

Ich glaube, sobald ich angefangen habe, meine Liebe zur Literatur ein bisschen ernster zu nehmen, wurde mein Songwriting davon beeinflusst. Ich habe viel russische Literatur gelesen – nicht auf Russisch, aber ich glaube, das war es vielleicht. Einiges davon stammt aus dem späten 19. Jahrhundert, man könnte vieles an der Sprache also als prätentiös betrachten. Aber ich sehe auch eine Menge Schönheit in dieser Sprache. Abgesehen von den thematischen Elementen würde ich sagen… wie ich schreibe, ich meine… ich weiß es nicht wirklich. Ich finde, das ist eine wirklich schwierige Frage. Ich habe mich noch nie hingesetzt und gedacht: „Wie will ich klingen? Was für einen Song will ich schreiben, welche Art von Texter will ich sein?“ Es scheint einfach natürlich zu passieren. 

Man kann so viele verschiedene Einflüsse in eurer Musik hören. Aber gibt es Musik, die dich beeinflusst hat, von der man überrascht wäre? Ich mag den Begriff ‚guilty pleasures‘ nicht, aber…

Es ist lustig, ich hatte vorhin eine Frage über „guilty pleasures“ und habe gesagt, dass man keine haben sollte. Wenn es um Überraschungen geht… Die Leute finden es immer ziemlich überraschend, wie viele Singer-Songwriter ich höre. Ich weiß nicht, warum. Ich nehme an, es liegt an der Musik, die wir machen. Ich liebe ABBA, aber jeder liebt ABBA. Ich meine, der Song „Fit for Work“… der Beat darin, wir haben uns absichtlich über „One Dance“ von Drake lustig gemacht.

Ihr seid in erster Linie eine Live-Band, so seid ihr groß geworden, durch eure vielen Auftritte. Warum war es für euch so wichtig, euch auf diese Art zu etablieren, wo doch jetzt Streaming und Online-Fangemeinden so wichtig sind? 

Ich weiß nicht. Vielleicht aus meiner eigenen Erfahrung heraus, als ich mit 14 Jahren angefangen habe, zu Konzerten zu gehen. Oder besser gesagt, man hat mich mitgenommen – ich habe nicht nah genug an einer größeren Stadt gewohnt. Ich glaube, wir ist damals bewusst geworden, dass der Unterschied zwischen ein Album zu hören und denjenigen live zu sehen, ziemlich groß ist. Es ist ein authentischeres Erlebnis, jemanden live zu sehen. Und das soll nicht heißen, dass ein Album per se unauthentisch ist. Das stimmt so nicht. Aber ich weiß nicht, live gibt es keine ‚Take Twos‘, da kommt das Ausprobieren zum Tragen. So etwas können wir im Studio schwer umsetzen, weil die Zeit, die wir uns im Studio leisten können, in der Regel sehr begrenzt ist. Wir haben nicht drei Wochen Zeit, um mit ein und demselben Synthesizer-Sound zu experimentieren.

Und es macht uns Spaß, live zu spielen, wir lieben es! Ich kann mir vorstellen, dass es sehr schwierig sein muss, Musiker zu sein, wenn man diese Seite der Dinge nicht genießt. Es ist keine Schinderei, weißt du? Es gab schwierige Momente. Es gab Momente, als wir nachts um eins am Ende eines Festivals aufgetreten sind und gedacht haben, das wird super, und dann waren drei Leute da. Aber diese Momente geben einem Halt, und sie erinnern dich auch daran, dass es egal ist, wer vor dir steht. Jeder hat die gleiche Show verdient. 

Ich finde es auch interessant,  dass ihr euch in der britischen und vor allem der Londoner Szene etabliert habt. Und jetzt spielt ihr an Orten, an denen ihr euch den Leuten neu vorstellen müsst. Ihr spielt also nicht mehr in ausverkauften Sälen, sondern an Orten, an denen man vielleicht nicht weiß, wer ihr seid. Wie fühlt sich das an?

Nun, es ist seltsam. Ich denke, dass es wahrscheinlich etwas einfacher ist, ein größeres Publikum mitzureißen. Es ist einfacher, wenn es mehr Masse gibt. Ich muss sagen, dass ich seit den Anfängen der Band immer gerne nah an den Leuten dran war, und manchmal stört es mich, wenn zwischen mir und dem Publikum dieser verdammte Zwei- oder Drei-Meter-Graben ist. Wenn wir jetzt auf eine Festivalbühne kommen und es keine Möglichkeit gibt, runter zum Publikum zu kommen, mache ich einen auf Diva. Ich bitte darum, dass man eine Art Stufe baut, was sie in der Regel auch gerne tun. Also vielen Dank an die Bühnenarbeiter! Aber wir sehen definitiv eine Art positiver Veränderung, und das macht uns sehr glücklich. Es ist uns gar nicht so aufgefallen, aber wir sind irgendwie mitgewachsen. 

Du hast vorhin gesagt, dass du nicht in der Nähe einer großen Stadt gewohnt hast. Wie habt ihr die Umstellung empfunden, von Yorkshire nach London zu ziehen und jetzt in dieser Szene involviert zu sein?

Am Anfang war es ziemlich zermürbend, weil wir nicht den Luxus hatten viele Leute zu kennen, die überhaupt zu unseren Shows kommen konnten. Wir hatten viele schreckliche ‚pay to play‘-Gigs, als wir angefangen haben. Es gibt da ein paar Firmen, ich werde sie jetzt nicht nennen. Aber sie verdienen es verdammt noch mal, genannt zu werden, denn was sie tun, ist kriminell! Man spielt sozusagen die Show, und wenn man nicht eine bestimmte Anzahl von Tickets verkauft, schuldet man ihnen Geld. Das ist verdammt noch mal total ausbeuterisch! Tim Perry, der Booker, hat uns zum ersten Mal die Gelegenheit gegeben, im Windmill zu spielen. Ich glaube, das war der Punkt, an dem sich alles für uns anfing zu ändern. Und das war noch nicht einmal als DEADLETTER. Das Windmill war eine Zeitlang quasi unser Zuhause. Es gab einen Sommer, da haben wir dort so ziemlich jeden Freitag gespielt, zwei oder drei Monate lang. Es gab noch ein anderes Lokal namens The Five Bells in New Cross, das dem Windmill in dieser Hinsicht sehr ähnlich war, wo man so ziemlich jeden Abend in der Woche hingehen und Bands spielen sehen konnte. 

Welchen Rat würdest du einer Band geben, die plant, nach London zu ziehen? Gibt es etwas, von dem ihr euch wünscht, ihr hättet es anders gemacht? 

Vielleicht wünsche ich mir, ich hätte mich nicht so schnell in die Scheiße geritten (lacht). Ich weiß nicht, es ist schwer, Ratschläge zu geben. Man muss es irgendwie auf seine eigene Art und Weise schaffen. Ich denke, man muss einfach viel spielen. Man muss bereit sein, viel zu tun, auch wenn es sich anfangs nicht lohnt. Ich meine das nicht wörtlich in wirtschaftlicher Hinsicht. Ich meine, man muss Stunden investieren. Du musst bereit sein, vor niemanden zu spielen und darfst es nicht für selbstverständlich haten, wenn du vor jemanden spielt. Und du musst dir auch einen Nebenjob suchen, den du wirklich magst. Denn du wirst ihn noch lange brauchen.

Das Interview wurde ins Deutsche übersetzt. Die englische Version findet ihr hier.

www.deadletter.co.uk