Dass Bow Anderson ursprünglich Leistungssportlerin war, sieht man ihr sofort an. Eigentlich wollte die Schottin Karriere als Trampolinspringerin machen, aber dann zwang eine schwere Verletzung sie, mit dem Training aufzuhören. Heute steht sie bei strahlendem Sonnenschein auf der Bühne des Tempelhof Sounds Festivals und bringt zur frühen Nachmittagsstunde die ersten der Hitze trotzenden Besucher*innen mit ihrem Pophit „Twenties“ zum Tanzen. Die Menge jubelt auf, als die ersten Takte des Songs erklingen – „Twenties“ ging Anfang des Jahres dank eines Tik Tok Snippets viral und hat seitdem über 10 Millionen Streams auf Spotify eingeheimst.
Wie sie in roten Trainingshosen über die Bühne springt, wirkt Bow Anderson so, als könnte sie jeden Moment in die Luft springen. Vielleicht liegt das aber auch gar nicht an ihrer sportlichen Vergangenheit, sondern vor allem daran, wie glücklich sie darüber ist, an diesem Tag hier zu sein. Musik, so erzählt sie mir später im Backstage Bereich, habe ihr buchstäblich das Leben gerettet. Jetzt ist sie bereit für den nächsten großen Karriereschritt und erobert die Musikwelt mit ihrer ganz eigenen Mischung aus Soul, Hip Hop, Gospel und Pop.
„Twenties“ erzählt von dem Druck und dem Stress, den man in seinen Zwanzigern verspürt, möglichst viel vor der großen 30 geschafft zu haben. Den wollte Bow sich mit dem Song von der Seele singen und hat dabei, mehr zufällig, sehr vielen Menschen aus der Seele gesprochen. Also sprechen wir über die Wichtigkeit, den Moment zu genießen, aber auch darüber, was Bow Anderson bis jetzt erreicht hat. Und das ist eine ganze Menge.
Wie schön, dass du hier bist!
Oh ja! Ich war ewig nicht mehr hier. Während des Lockdowns war ich mal in Hamburg, aber in Berlin war ich schon sehr lange nicht mehr. Es ist so gut, wieder hier zu sein. Und dann auch noch eine Show spielen zu können!
Du hast bis hierhin sicherlich eine ganz schöne Reise hinter dir. Deine Single „Twenties“ hat mehr als 10 Millionen Aufrufe auf Spotify. Es wirkt vielleicht von außen so, aber so etwas passiert doch nicht über Nacht.
Es war ein ganz schöner Trip. Ich versuche einfach, es zu genießen. Wenn dir so etwas passiert, denken die Leute oft, es käme völlig aus dem Nichts. Es ist harte Arbeit. Man muss es einfach genießen und jede Gelegenheit nutzen, die sich einem bietet. Ich liebe meinen Job.
Du wolltest ja ursprünglich eine ganz andere Karriere einschlagen, als professionelle Trampolinspringerin.
Ja, ich habe schon als Kind sehr viel Sport gemacht. Meine Mutter hat mich überall angemeldet. Erst habe ich getanzt, dann Trampolin trainiert. Dabei habe ich mich leider so schwer verletzt, dass ich an keinen Wettkämpfen mehr teilnehmen konnte. Ich war auf einer Schule, an der der Schwerpunkt auf darstellenden Künsten lag. Als ich nicht mehr tanzen konnte, haben sie mich ermutigt, mit dem Singen anzufangen. Ich habe schon immer Musik geliebt, habe es aber immer durch Tanz ausgedrückt. Musik ist einfach mein Leben, ich wusste, das ist es, was ich machen möchte.
Aber wie verrückt, dass du mehr zufällig angefangen hast zu singen. Du hast so eine tolle Stimme.
Danke! Ja, es ist verrückt. Als Kind habe ich wirklich nie gesungen. Musik habe ich schon immer geliebt, aber ich wusste einfach nicht, dass ich singen kann. Als ich jung war, gab es all diese großen Stimmen, Adele, Sam Smith… mit denen habe ich mich verglichen und dachte, das bin ich nicht. Später, als ich wusste, dass es das ist was ich machen möchte, bin ich nach London gezogen und habe alles daran gesetzt, mir eine Karriere aufzubauen. Und hier sind wir! Ich glaube sehr daran, dass nichts zufällig passiert. London ist der Ort, an dem man sein muss, wenn man Musik machen will.
Ist es nicht schwer, die richtigen Leute zu finden, die einen auf dem Weg begleiten und Türen für einen öffnen? Es gibt so viele große Talente da draußen, aber es ist hart, seinen eigenen Platz zu finden.
Es ist hart. Es ist ein hartes Geschäft. Man muss sich ein dickes Fell zulegen. Lernen, auf wen man hört und auf wen besser nicht. Und man muss sein eigenes Ding finden! Ich persönlich liebe Soul Musik, ich liebe Hip Hop, Gospel und Pop. Also war mein Ziel, all das zu einem Sound zu vereinen und mein eigenes Ding zu machen, das nicht schon jemand anders macht. Man muss an seine Fähigkeiten glauben. Und ich glaube, wenn man sich selbst treu bleibt, erzielt man immer das beste Ergebnis.
Absolut! Ich glaube ja, je persönlicher, je spezifischer das ist was man macht, umso mehr Leute spricht es am Ende an.
Oh, das ist wahr! Das ist absolut wahr. Genau so ist es mir mit meinem Song „Twenties“ gegangen. Ich hätte niemals gedacht, dass er so viele Menschen ansprechen würde. Ich habe nur diesen Stress gefühlt, den man in seinen Zwanzigern manchmal hat und wollte ihn einfach raus lassen. Das Studio ist für mich der Ort, an dem ich Dampf ablassen kann. Es ist ein bisschen wie Therapie. Ich wollte einen Song darüber machen was es bedeutet, in seinen Zwanzigern zu sein – die Höhen und Tiefen, der Druck… aber ich habe nicht darüber nachgedacht, dass jemand sich damit identifizieren könnte. Ich habe buchstäblich gedacht, ich bin der einzige Mensch, der sich so fühlt. Das war eine coole Erfahrung für mich. Wenn ich etwas schreibe, mit dem andere sich identifizieren können, fühle ich mich selbst ein bisschen weniger allein. Es ist einfach passiert. Ich glaube nicht, dass man das erzwingen kann. Man muss sich einfach selbst treu bleiben.
Meine Zwanziger sind ja schon ein bisschen her, aber ich finde den Song auch sehr auf den Punkt. Ich konnte mich sofort an den Stress erinnern, den man sich macht, bis zur 30 bestimmte Dinge geschafft zu haben.
Das freut mich wirklich sehr. Ich hatte einfach diesen Druck und wollte ihn rauslassen. Ich habe noch nicht einmal darüber nachgedacht, den Song zu veröffentlichen. Mein Label hat mir dazu geraten. „Twenties“ ist nicht unbedingt ein klassisches Beispiel für meinen Sound. Es ist ein ziemlich straighter Popsong, er hat keine Soul-, Hip Hop- oder Gospelelemente. Da ist auch nichts falsch dran. Aber so viele Leute fanden den Song so toll, dass ich dachte, wenn er sie so anspricht, dann soll es wohl sein. Und ich bin so froh, dass ich mich habe überzeugen lassen! Es macht so einen Spaß, den Song live zu spielen. Das meine ich damit wenn ich sage, dass nichts zufällig passiert. Ich hatte nicht den Plan, ihn zu veröffentlichen, selbst als mein Label dafür war.
Und man darf auch nicht vergessen wie schwer es ist, einen guten Popsong zu schreiben.
Es ist definitiv ein Handwerk. Man kann es bis zu einem gewissen Grad üben, und je öfter man es macht, desto leichter fällt es einem. Es kann dir auch niemand so wirklich beibringen. Man muss einfach daran arbeiten, am besten immer wieder mit unterschiedlichen Menschen, Produzenten und Songschreibern. Von jedem lernt man etwas dazu, über Reimschema und Struktur. Und das Faszinierendste ist, es gibt dabei kein richtig oder falsch. Es funktioniert jedes Mal anders. Manchmal habe ich ein Konzept, manchmal spielt mir jemand ein Sample vor und ich denke wow, das ist cool. Bei „Twenties“ hatte ich zuerst den Text. Man weiß nie wie es läuft, das macht am meisten Spaß daran.
Aber bitte lass dir nicht zu viel Druck machen, dass man sein ganzes Leben auf der Reihe haben muss, bevor man 30 wird!
Ich versuche es! Ich versuche, jeden Tag und jeden Moment zu genießen und möglichst im hier und jetzt zu leben. Sonst erlebt man all diese tollen Sachen und sie ziehen an einem vorbei. Dann realisiert man alles erst später. Manchmal zu spät. Ich meine, guck dich mal um! Ich sitze hier mit dir in diesem geschichtsträchtigen, ehemaligen Flughafen. Und ich habe gerade eine Show gespielt. Viele würden sterben, um in meiner Position zu sein. Ich kenne so viele, die genau das gerne tun würden und nicht die Möglichkeit haben. Ich bin sehr ehrgeizig und habe die Tendenz, mich, wenn etwas fertig ist, schnell der nächsten Sache zu widmen. Ich glaube, manchmal muss ich mir noch mehr gönnen, etwas in vollen Zügen zu genießen.
Ist das auch etwas, das einem im Leistungssport antrainiert wird? Dass man sich immer auf das nächste Ziel, den nächsten Wettkampf konzentriert?
Ja, definitiv. Als ich noch trainiert habe, ging es immer darum, das nächste Level zu erreichen. Es ist eine sehr ehrgeizige Welt. Der Körper leidet darunter, aber man hat immer das Gefühl, dass es sich lohnt. Das hat mein Mindset schon sehr geprägt.
War es sehr hart für dich, als du aufhören musstest?
Ich glaube, ja. Aber Musik… das klingt vielleicht cheesy, aber Musik hat mich gerettet. Sie war meine Therapie. Ich habe zum Glück schnell den Punkt erreicht, an dem ich sie mehr geliebt habe als den Sport. Eine Zeitlang habe ich noch als Trampolin Coach weiter gearbeitet, aber das hat mich sehr getriggert. Es ist mit so viel Verantwortung verbunden, vor allem da ich selbst wusste, wie sehr man sich verletzen kann. Es war einfach zu viel. In die Musik habe ich mich so sehr verliebt, dass ich nie wieder gedacht habe, ich möchte lieber Trampolin springen. Ich liebe das, was ich heute tue, wirklich von ganzem Herzen.