Bosse im Interview: „Groß ansetzen ist immer super, weil man damit mindestens kleine Sachen bewegt“

Zu seinem Song „Der Sommer“ hat Bosse ein Video gedreht, in dem er mit einem Bus in den Urlaub fährt und unterwegs eine Reihe hübscher Damen aufliest, die ihn ein Stück des Weges begleiten und bei der Rast Choreografien mit ihm tanzen. Mein erster Gedanke war: das kann auch nur Bosse machen, ohne dass es in irgendeiner Form creepy wirkt. Wenn ich als Frau zu irgend jemandem mit gutem Gefühl ins Auto steigen würde, dann zu Bosse. 

Überhaupt ist es immer eine große Freude Bosse zu treffen, und dieses Mal irgendwie besonders. Weil wir uns trotz Maske im Aufzug sofort wieder erkennen. Weil man uns bei seinem Label in einen frisch gestalteten Raum führt, der aussieht wie eine Mischung aus südamerikanischer Bar und fünfziger Jahre Wohnzimmer, mit Blick auf die Spree – schon wieder so ein Urlaubsgefühl. Und weil Bosse einfach ein total dufte Typ ist, auf dessen Stabilität und unbestechliche Meinung man sich auch in dieser komischen Zeit verlassen kann. Der einem das Gefühl gibt, dass es okay ist an einem Tag wie diesem über Musik zu reden, während die Medien aus anderen Teilen der Welt die schlimmsten Nachrichten übermitteln.

„Sunnyside“ heißt sein neues, frisch erschienenes Album, und der Titel passt wie Faust auf Auge. Natürlich ist Bosse auch privat genau der sonnige Typ, den man von der Bühne kennt. Nur unterschätzen sollte man ihn nicht. Er weiß genau wo er steht und wie er seine Meinung unmissverständlich rüber bringt, sowohl in seinen Songs als auch im Gespräch. 

Ich habe dich zuletzt gesehen 2019, beim Sziget Festival in Budapest.

Das war so schön! Die haben es einfach verstanden. Es ist ja gerade weltweit ein Trend, zumindest Europaweit, Green Touring, grünes Festival, kein Plastik, ein Viertel ist Musik, der Rest ist eine Spielwiese um zu Meditieren, sich kennenzulernen, Schach zu spielen und unterhalten zu werden, für die ganze Familie. Sziget ist ein vorbildliches Festival! 

Es war wahnsinnig heiß, daran erinnere ich mich besonders.

100 Grad hatten wir. Und es waren Leute vor der Bühne! Wenn man so ein Festival gebucht kriegt, es ist ja überhaupt eine Ehre dass die anrufen, dann ist das schon ein Ritterschlag. Das war einer der schönsten Tage. 

Wie ist es dir denn seitdem ergangen? Letzten Sommer habe ich mal gedacht, irgendwie fehlt der Bosse… weil du so eine verlässlich stabile Stimme bist, in diesen schrägen Zeiten.

Ja… da habe ich richtig tief in der Platte gehangen. Ich weiß nicht. Letztes Jahr wollte ich nicht, weil ich gedacht habe, ich bin wirklich überspielt gewesen. Seit zehn Jahren sagen mir alle, die mich beraten, aber vor allem alle, die mich familiär beraten, wie zum Beispiel meine Frau (lacht): „Alter, mach einfach mal ne Pause! Du spielst viel zu viel“. Meine Antwort ist immer jaha, aber ich hab ja auch nicht viel anderes. Natürlich liebe ich meine Familie, aber da schlagen zwei Herzen in meiner Brust, und ich muss spielen. Als es jetzt nicht ging, habe ich mir das letztes Jahr gespart, vor Autos zu spielen. Gut, die Picknick-Konzerte waren letztes Jahr auch schon toll. Wir haben überlegt machen wir das jetzt oder nicht, und dann habe ich gesagt ne, jetzt ziehe ich endlich mal diesen Joker, dass ich allen gerecht werde die schon immer sagen: „Hör auf! Mach doch jetzt mal ein halbes Jahr Pause.“ Das hab ich dann auch gemacht, also zumindest nach außen. Und dann habe ich meine Platte geschrieben.

Was ja auch nicht das Schlechteste ist. 

So ist ja mein ganzes Leben, dass ich immer drei Tage schreibe, dann wieder zwei Konzerte spiele, dann wieder alles durchwasche, mich hinsetze und das Gefühl habe das ist toll, weil es ja irgendwie erfrischt und lebendig macht, das Schreiben ja manchmal nicht. Und diesmal ist der alte Koffer echt in den Schrank in den Keller gewandert. Das war glaube ich nicht schlecht für mich.

Gibt es den wirklich, den gepackten Koffer in der Ecke? Oder ist das symbolisch gemeint?

Ne, das ist wirklich so. Seit Jahren machen viele Leute Witze darüber. Der heißt nämlich Mariah Carey. Ich hab den größten und ältesten Koffer, der ist bestimmt schon 20 Jahre alt. Da ist alles drin. Wenn ich toure, weil ich ja auch so stark schwitze (lacht), habe ich wirklich so viele Klamotten mit, dass ich den brauche. Der hat seinen festen Platz, eigentlich in meinem Arbeitszimmer, da ist immer alles frisch durchgewaschen drin. Und wenn mich jemand anruft und sagt, du musst in zwei Minuten ins Taxi springen, dann könnte ich das machen. Mit dem bin ich drei Wochen überlebensfähig. Und gar nicht symbolisch, den habe ich seit Jahren mal wieder richtig ausgepackt. 

Ich finde ja ehrlich gesagt, dass man nicht zwingend der schlechtere Partner ist, wenn man viel unterwegs ist und viel zu tun hat.

Das Gegenteil! Das muss ich meinen Mädels Zuhause lassen, meiner Tochter und meiner Frau. Die haben ja beide auch so viel zu tun, haben ihre Lieben und ihre Leidenschaften neben der Familie. Das hat unser Kind auch sehr früh verstanden, dass wenn ich das nicht mache, ich echt traurig und unglücklich werde. Und dass wenn meine Frau ihre Sachen nicht macht, die eben auch nicht glücklich ist. Natürlich ist das dann eine mega große Herausforderung, plötzlich in so einem familiären WG-Rahmen so viel Zuhause zu sein. Der Verzicht auf diese Lebendigkeit. Ich habe inzwischen erkannt, dass ein Großteil meines Lebens echt aus Vorfreude besteht. Wie zum Beispiel dieses Festival. Auf sowas freue ich mich zwei Wochen! Das macht ja was mit einem. Das ist ein großer Teil von mir, von dem meine Liebsten auch partizipieren. 

Ich musste ja schmunzeln als ich gesehen habe, dass du einen Song namens „Vorfreude“ geschrieben hast. Mir hat ja neulich jemand erzählt, dass es dafür keinen entsprechenden Ausdruck im Englischen gibt.

Ne. Warum nicht? Verrückt. Ich mag den Text ja fast am liebsten von der Platte. Weil ich den so schön dumm finde (lacht). Mein Produzent wollte den partout nicht auf der Platte haben. Er meint, das ist so ein schrecklicher Text. Ich finde den ganz genial. Ist doch witzig. Das habe ich diesmal probiert, dass ich nicht immer alles in einem Song haben muss. Das war die letzten Jahre schlimm bei mir, weil ich immer das Gefühl hatte: bei dem Liebeslied, wenn die beiden an den See fahren, das wär echt geil, wenn die jetzt noch ein AFD-Plakat abreißen. Weißt du was ich meine? Das muss sein, da muss jetzt noch ein politisches Statement rein. 

Das stimmt! Das ist sehr geteilt auf dieser Platte. Es gibt die Statement-Songs und es gibt die Gefühls-Songs. 

Ganz genau. Das habe ich extra gemacht. Ich glaube, früher hätte ich so einen Song wie „Wild nach deinen Augen“ gar nicht mit drauf genommen. Das habe ich mir diesmal so gegönnt. Ich habe viel mit Matze Hielscher geredet, dem ich ab und zu was geschickt habe, und der meinte, fuck off, ab und zu muss auch einfach wild durch die Küche getanzt werden. Dafür ist Musik auch gut. In „Vorfreude“ geht es eben nur um Vorfreude, in „Paradies“ geht es nur um Gesellschaft und bei „Hinter dem Mond“ geht’s nur darum sich abzuschießen. Und es wird nichts miteinander vermischt. Das finde ich irgendwie gut.

Aber eigentlich funktioniert die Welt gerade doch genau so. Es herrscht so viel Wahnsinn! Heute morgen habe ich die Bilder aus Afghanistan gesehen und kurz gedacht scheiße, und wir setzen uns hier gleich hin und reden über Musik. Aber das muss auch seine Berechtigung haben, finde ich. Und wenn man die Dinge voneinander trennt, kann man sich ihnen gezielter widmen. 

Das ist aber auch wirklich total schwierig. Ich habe heute morgen kurz eine Headline gelesen, in der Bahn, auf der BILD Zeitung: „In Kabul sterben Menschen und Merkel lacht auf der Filmpremiere.“ Da kann ich nur sagen: einfach Maul halten. Weil natürlich ist dieser Film „Die Unbeugsamen“, über die Anfänge der Frauen in der Bonner Republik, total wichtig und toll. Und natürlich ist jetzt grad Kabul und natürlich war vor drei Wochen die Flut. Das ist so viel und so geballt, dass es für ganz, ganz viele Leute gerade so ist wie für Angela Merkel, dass man auf verschiedenen Baustellen zwischen totaler Angst und totaler Freude hin und her tingelt. Da sollte man sich schon die Freude trotzdem gönnen. Irgendwo her muss ja auch die Kraft kommen. Aber du hast schon recht, manchmal zieht man sich das rein und denkt: wie sehr kann man sich überhaupt noch was gönnen? Stellt das nicht das ganze Weltgeschehen, alles was gerade ist, komplett in Frage? Dass man den Kopf nur noch nach unten in den Sand steckt und sagt: gut, dann ergebe ich mich. Aber so funktioniert es eben nicht. 

Glaubst du denn, dass die Welt reif ist für große Veränderungen? Die Generation unser beider Töchter zum Beispiel ist ja sehr bewusst und aufmerksam, was viele wichtige Themen angeht. Aber die sind zum Teil leider noch nicht alt genug zum Wählen…

Die Grundsteine sind gelegt. Ich weiß immer noch nicht, ob bei dieser Wahl die Zeit jetzt schon so reif ist für den riesengroßen Wechsel. Meine Prognose ist leider eine andere, auch wenn ich es mir sehr wünschen würde. Und trotzdem finde ich, ist schon so viel bewegt worden. Ich finde immer Sachen gut, die übertrieben angeschoben werden. Wie die Fridays for Future Bewegung, oder wenn es zum Beispiel um Frauenquote geht. Da bin ich komplett dafür. Man muss es einfach machen, damit es am Ende normal wird. Wie du schon sagst, wenn ich mir meine Tochter anschaue, die ist so viel entspannter. Der ist das wirklich so egal, ob ihr bester Freund jetzt mit nem Typen zusammen ist oder sich doch für ein Mädchen entscheidet, oder sich schminkt. Das ist richtig, richtig gut. Natürlich ist es ein bisschen gemein zu sagen: das wird die Generation, die wird das richten. Aber es ist schon was dran. Ich lerne da gerade selber so viel. Auch dass meine Tochter von vorne herein nur Vintage kauft. Die hasst Leute, die sich nur neue Klamotten kaufen. Da kann man jetzt ewig so weiter machen, aber ich setze auf diese 15 bis 22 jährigen, die vieles nochmal anders verstanden haben. Groß ansetzen ist immer super, weil man damit mindestens kleine Sachen bewegt. 

Apropos groß ansetzen: wie deine Platte mit „Ende der Einsamkeit“ los geht. Du gehst ja wie immer voll rein. 

Voll rein.

Und ich finde es super, offen und von Herzen zu sagen, was man in dieser Zeit vermisst! Es wird ja gerne so getan, als gäbe es nur noch zwei Sorten Menschen: die, die die Maßnahmen hinterfragen und die, die getreu der Regierung hinterher laufen. Da tut es wirklich gut, wenn jemand wie du, mit dem Herz und dem Verstand am rechten Fleck sagt: mir fehlt das Anstehen vor dem Club.

Total. Corona-mäßig ist es ja eigentlich so wie das, was wir vorhin besprochen haben. Es passieren total krasse Sachen auf der Welt, alles geht den Bach runter, und man sitzt hier, trinkt Kaffee und redet über Kultur. Was ist das denn für ne Frechheit. Natürlich hat mir Kultur gefehlt, weil das macht mich lebendig. Und ich kenne so viele Leute, die psychisch wirklich eingegangen sind. Die gar nicht aus gefestigten, sich liebenden Verhältnissen kommen, jetzt in irgendeiner Wohnung hängen und alles bricht zusammen. Wenn ich jetzt aus meiner Position sage mir fehlt Kultur, dann ist das natürlich erstmal Jammern auf hohem Niveau, weil andere Leute liegen auf der Intensivstation und werden beatmet. Aber ich glaube, wenn man das mit Fingerspitzengefühl macht, dann darf man schon äußern was einem fehlt. Auch wenn Kultur immer so als Luxus angesehen wird, wenn es ums große Ganze geht. Was schon auch stimmt, weil zum Leben braucht man Gesundheit, was zu Essen und was zu Trinken. Aber ich muss einfach sagen, dass es mir wahnsinnig, wahnsinnig gefehlt hat. Die Vorfreude, das lebendig fühlen… und selbst vor Strandkörben spielen, finde ich gerade mega gut. Das ist jetzt erstmal der Weg, und dann muss man eben weiter schauen. Ich nehm’s wie’s kommt, weil ich einfach so gerne auf der Bühne stehe. Die ersten Konzerte waren so krass. Wir haben geflennt wie die Schlosshunde! Weil es einfach so schön war, wieder was zusammen zu machen. Egal mit was für Abstand und egal wo. Und der beste Nebeneffekt ist, dass die freiberuflichen Musikerinnen und Musiker jetzt endlich angefangen haben, nach so viele Jahren, sich zusammenzufinden und eine Lobby zu gründen. Das ist jetzt wichtig, dass man auf die Politik zugeht. Das könnte ein großer Gewinn dieser Pandemie sein. Weil man immer erst merkt dass man keine Lobby hat, wenn die Hilfe nicht kommt. Wenn man seine Doppelhaushälfte plötzlich nicht mehr abbezahlen kann, dann fangen die Leute an aufeinander zuzugehen und miteinander zu reden. 

Jetzt musst du mir aber noch etwas zu dem wunderschönen Song erzählen, den du für deinen Vater geschrieben hast.

Du, wir hatten eigentlich Pläne in dem Jahr. Mein Vater und ich sind sehr eng, aber mein Vater ist halt auch alt. Da habe ich gedacht okay, ich schnapp mir den und meinen Bruder und meine Schwester und wir gehen nach England und ziehen uns die ganze harten Zweitliga- und Erstliga-Spiele rein. Wir haben nämlich so ne Fußballvergangenheit als Familie. Das was bei uns hängen bleibt ist, dass der Alte vor dem Fernseher rum schreit oder uns zum Sport begleitet. Aber das ist dann ja leider weg gefallen. Bei mir ist es oft so, wenn ich den Leuten was sagen will, dann schreibe ich nen Brief oder so. Und dann habe ich angefangen einen Song zu schreiben, weil ich mich geärgert habe, dass die ganzen Liverpool-Termine nicht funktioniert haben. Das ist ja echt schwierig bei so ner Nummer, ehrlich zu sein und nicht abzukitschen. Ich hab’s einfach gemacht. Mehr ist es nicht.

Und was hat dein Vater gesagt?

Ich hab’s ihm zum Geburtstag geschickt, in ner WhatsApp, in so ner Billig-Qualität, weil er auch nicht mehr so gut hört. Hat er sich auf Kopfhörern rein gezogen und mir zurück geschrieben: „Alter!“ Dann kam erstmal ne halbe Stunde nichts und dann noch der Witz: „Bist ein Familienmensch“. (lacht) Weißt du, mein Alter und ich, wir haben echt so ne krasse Beziehung. Das Beste was meine Eltern immer gemacht haben, war Lieben und Loslassen. Seitdem ich die Nummer geschrieben habe, und sonst bin ich da nicht so pathetisch mit meinen Songs, weil es sind nur fucking Songs, aber seitdem habe ich ein gutes Gefühl, weil ich so eine Grundkommunikation und so ein Grund-Danke, bevor jemand richtig alt wird, irgendwie gut finde. Na ja, jetzt hat er seinen Song, jetzt ist gut (lacht).

Rein musikalisch muss ich sagen – ich mag diese Keyboards.

Ja, ja. Bisschen dreckig, bisschen divers. Wenn ich mir das Ding anhören ohne Gesang, dann kann ich sagen das ist nicht eine Platte. Es gibt keinen roten Faden. Ich hab nur gesagt: jeder Song das was er verdient, ist mir scheißegal welche Musikrichtung. Ich liebe auch alle Musikrichtungen. Da müssen die Leute mit klar kommen. Meine Stimme verbindet das ja. 

Ja, es ist am Ende einfach immer Bosse. Wie bei Prince, der konnte auch machen was er wollte.

Dankeschön! Das war’s, jetzt hör ich auf (lacht). 

Foto © Marco Sensche