Spätestens am Montag stellt es sich zum ersten Mal ein, das „Eigentlich wollte ich doch…“ Gefühl. Eigentlich wollte ich ja „Lotte“ von Julius Schultheiß gucken. Aber dann verpasse ich die Pressekonferenz mit Emma Thompson (und wer will denn bitte schon Emma Thompson verpassen?). Überhaupt wollte ich viel mehr Beiträge aus der Reihe Perspektive Deutsches Kino gucken, eigentlich eine meiner Lieblingssektionen der Berlinale. Und natürlich viel mehr der kleinen Beiträge, die Geheimtipps, die Filme, die vielleicht nie einen Verleih finden und nie wieder bei uns im Kino zu sehen sein werden. Ich wollte doch zwischendrin ganz lässig ein Getränk in der Audi Lounge nehmen und von dort den Panoramablick auf den roten Teppich vor dem Berlinale Palast genießen. Nach drei Tagen lasse ich das Buch Zuhause, das ich sonst immer mit mir rum schleppe. Denn irgendwann hatte ich auch mal die romantische Vorstellung, mich zwischendurch irgendwo hin zu setzen und eine Runde zu lesen, um den Kopf frei zu kriegen von den vielen Filmen. Haha, der war gut.
Tatsächlich stelle ich nach ein paar Tagen fest, dass es die Örtlichkeit des Berlinale Palasts ist, die bereits am Samstag anfängt, meinen Rhythmus zu diktieren. Da ist es so besonders „berlinalig“. Der Palast macht doch die Berlinale eigentlich aus, oder? Nirgendwo sitzt es sich schöner als 12 Uhr mittags in einem Wettbewerbsfilm. Das findet die Jury offensichtlich auch, denn hingegen Berichten manch anderer Medien die behaupten, Meryl Streep und ihre Juroren nie in einer der Vorführungen gesehen zu haben, komme ich jeden Tag mindestens einmal in den Genuss, mir eine Vorstellung mit der Jury zu teilen. Und das hat doch auch was, oder?
Also beginne ich den Tag am Montag mit „Alone in Berlin“, am Dienstag mit „Genius“ und am Mittwoch mit „Kollektivet“. „Alone in Berlin“ entpuppt sich, obwohl ich großer Fan von Emma Thompson bin, leider als Enttäuschung. Die Deutsch/Französisch/Englische Koproduktion aus dem Hause X-Filme, inszeniert von Vincent Perez, erzählt die Geschichte des Ehepaares Quangel (Emma Thompson und Brendan Gleeson), das 1940 in Berlin den Verlust des einzigen Sohnes an der Front verkraften muss. Lange haben die beiden an den Führer geglaubt, nun macht sich zunehmend Unmut breit, der sich schließlich im Schreiben von Postkarten entlädt. Die mit regimekritischen Aussagen versehenen Karten verteilen die beiden in der Stadt, fast 300 Postkarten werden es, bevor das unvermeidbar dramatische Ende zuschlägt. „Alone in Berlin“ hätte eigentlich viel, das großes Kino verspricht, allen voran natürlich die wunderbare Emma Thompson und den nicht weniger überzeugenden Brendan Gleeson in der Hauptrolle. Aber irgendwie funktioniert der Film nicht. Auf der anschließenden Pressekonferenz wird darüber diskutiert ob es Sinn macht, eine deutsche Geschichte zum Teil mit deutschen Schauspielern (Daniel Brühl spielt zum Beispiel den ermittelnden Kommissar) auf Englisch zu verfilmen. Dass rein inhaltlich etwas dagegen spricht, ist natürlich Quatsch. Trotzdem drängt sich auch mir das Gefühl auf, dass die englische Sprache in „Alone in Berlin“ nicht funktioniert. Jedoch scheint es mir eher ein inszenatorisches Problem zu sein. Zu zäh, zu elegisch lässt Vincent Perez die Schauspieler ihre Texte aufsagen. Von den deutschen Akteuren scheint allein Daniel Brühl, der bereits des öfteren international gedreht hat, einigermaßen überzeugend mit der fremden Sprache umzugehen. Ansonsten gibt es viel klischeehaftes Nazi Schergentum zu bestaunen, da werden die Rs und die Augen um die Wette gerollt. Am Ende gibt es vereinzelte Buh-Rufe. Muss jetzt nicht sein, aber emotional berührt hat „Alone in Berlin“ mich leider nicht.
„Genius“ gehört zu den Filmen im Wettbewerb, von denen man insgeheim denkt, man könnte sie sich auf der Berlinale auch sparen. Dank prominenter Besetzung (Colin Firth, Jude Law, Nicole Kidman und Laura Linney in den Hauptrollen), wird man das Biopic über den Lektor Max Perkins, der im New York der Zwanzigerjahre Schriftstellerlegenden wie Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald betreut hat, mit Sicherheit bald auch regulär im Kino erwischen können. Aber zu dem Zeitpunkt habe ich meinen 12 Uhr Mittags Wettbewerb-Spot bereits so lieb gewonnen, dass ich keine Abweichungen von der Routine mehr dulde. Und außerdem: Laura Linney! Mein Herz quillt über vor Liebe zu dieser Frau. Letztendlich belohnt einen „Genius“ dann auch mit bestem amerikanischen Unterhaltungskino auf hohem Niveau und einem wirklich überraschend genial-irren Jude Law als verrückter Schriftsteller Thomas Wolfe.
Neuer Tag, neuer Film. Ein Cocktail aus Koffein, Paracetamol und Aspirin erleichtert inzwischen das Aufstehen. Der Versuchung, nach einer weiteren langen Nacht endlich einmal auszuschlafen, lässt sich erstaunlich leicht widerstehen. Eigentlich wollte ich auch während der Berlinale mein Low Carb Programm weiter durchziehen. Aber eigentlich macht sich so ne Ditch Pizza als Katerfrühstück auch ganz gut. Inzwischen bin ich sogar so dermaßen zum Gewohnheitstier geworden, dass ich einen festen Platz im Berlinale Palast habe, den ich automatisch ansteuere. Mag sein dass es anderen genauso geht, denn plus minus einen nach rechts oder nach links ist mein favorisierter Spot immer frei. Auf „Kollektivet“, den neuen Film des dänischen Regisseurs Thomas Vinterberg („Das Fest“), freue ich mich besonders. Und zum Glück merke ich schnell, dass meine Erwartungen nicht enttäuscht werden. Vinterberg erzählt liebevoll die Geschichte einer Kommune in den 70er Jahren. Nachrichtensprecherin Anna (Trine Dyrholm) wünscht sich etwas Abwechslung im Ehealltag und überzeugt ihren Ehemann Erik (Ulrich Thomsen), sein frisch geerbtes Elternhaus zur Gründung einer Kommune zu nutzen. Neben kleinen Problemen, wie dem Festlegen einer Hausordnung, häufen sich bald jedoch auch größere: Erik verliebt sich in die Studentin Emma (Helene Reingaard Neumann), Anna, die ihren Mann vermisst, möchte das Experiment wagen, auch Emma mit in die Kommune zu integrieren. In dem Bild, das „Kollektivet“ vom Leben in einer Kommune zeichnet, liegen Freude und Schmerz nah beieinander. Trotzdem, oder gerade deshalb, trifft der Film meine Faszination für das Thema, dem Ausprobieren neuer Formen des Zusammenlebens, voll auf den Punkt. Und sämtliche darstellerischen Leistungen sind schlichtweg zum Niederknien.
Und was wollte ich sonst noch eigentlich? Früher ins Bett gehen? Weniger Wodka? Aber dann tanzt es sich doch wieder so schön, wenn Lars Eidinger bei der Party vom Bundesverband für Regie im Prince Charles an den Plattentellern steht. Ich wette er wollte auch wieder die Hosen runterlassen. Eigentlich. Aber dann hat er es sich wohl doch anders überlegt.
Auf der Berlinale unterwegs: Gabi Rudolph