Das Eintauchen in die Berlinale kommt der Reise in eine Zwischenwelt gleich. Für zehn Tage verliert das reguläre Leben fast komplett an Bedeutung. Alles wird zu einem Schwurbel aus Kino, Pressekonferenzen, schnellem Essen auf die Hand, einem Kurznickerchen auf der Couch im Pressebereich und schon geht es in den nächsten Film. Abends warten noch Partys und Empfänge auf einen, ein paar Stunden Schlaf und schon geht es weiter. Gar nicht so leicht dabei den Überblick zu bewahren, was man denn nun wann genau erlebt und gesehen hat.
Ganz am Anfang ist da die Pressekonferenz mit den Mitgliedern der internationalen Jury. Um Präsidentin Meryl Streep gruppieren sich Schauspieler Lars Eidinger, der britische Schauspieler Clive Owen, die italienische Schauspielerin Alba Rohrwacher, die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska, die französische Fotografin Brigitte Lacombe und der britische Filmkritiker und Autor Nick James. Die Aufmerksamkeit im Raum liegt hierbei hauptsächlich auf Jurypräsidentin Meryl Streep, die meisten Fragen gehen an sie. So ganz kann man sich nicht darüber wundern. Es ist ein regelrecht erhebendes Gefühl, mit der 19 fach Oscar nominierten Schauspiellegende in einem Raum zu sitzen. Meryl Streep sprüht nur so vor Begeisterung über ihre Premiere als Präsidentin einer Jury. Hat sie noch nie gemacht, aber kann ja auch nicht weniger herausfordernd sein als eine Familie zu koordinieren. Über ihre Autorität gegenüber ihren Jurykollegen lässt sie keine Zweifel aufkommen, besonders Lars Eidinger, den habe sie schon ganz gut im Griff. Und man weiß, das will etwas heißen. Sie hat Humor, sie hat Charme, sie sieht wunderbar aus, man kann ihr nur zu Füßen liegen. Aber apropos Lars Eidinger – warum guckt der die meiste Zeit so böse? Sein Blick schweift immer wieder Psycho-Tatort-esk durch den Raum. Hätten sich Kaffeelöffel im Raum befunden, man könnte befürchten, er hätte sie alle abgeleckt.
Im Anschluss geht es direkt weiter zur Pressevorführung des Eröffnungsfilms „Hail, Caesar“, dem neuesten Werk der Coen Brüder, das im diesjährigen Wettbewerb außer Konkurrenz zu sehen ist. Mit „Hail, Caesar“ haben Joel und Ethan Coen eine liebevoll ausgestattete Hommage an die Hochzeit der amerikanischen Filmstudios in den 50er Jahren geschaffen. Produktionsmanager Eddie Mannix (Josh Brolin) sieht sich mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. Ein verschwundener Hauptdarsteller (George Clooney), eine schwangeres, unverheiratetes Schauspielsternchen (Scarlett Johansson), ein erfolgreicher aber sprachunbegabter Western Star (Alden Ehrenreich) und die sensationslüsternen Klatschreporter Zwillingsschwestern Thora und Thessaly Thacker (Tilda Swinton) machen ihm das Leben schwer. Dabei erzählen die Coens weniger eine stringente Geschichte, als vielmehr ein unterhaltsames Sammelsurium von Schwierigkeiten und Kuriositäten. Es geht dabei nicht vorrangig um das Feuerwerk artige Zünden von Gags sondern mehr darum, immer wieder absurde Situationen aus dem Hut zu zaubern, die so liebevoll detailliert ausgearbeitet sind, dass man sich ihrer Komik nicht entziehen kann.
Bei der anschließenden Pressekonferenz bekommt man schnell ein Gespür dafür, woher die Freude rührt, die sich beim Betrachten des Filmes einstellt. Die Chemie zwischen Regisseuren und Schauspielern scheint geprägt von einem kreativen, humorvollen Miteinander. George Clooney schießt ausdauernd Späßchen in Richtung der fragenden Presse. Kaum wie ein anderer versteht er es, die Menge im Raum nicht nur mit Informationen zu versorgen, sondern sie auch zu unterhalten. Auch die im Rahmen der Berlinale Pressekonferenzen oft etwas skurril anmutenden Fragen handhabt er souverän, charmant und wenn es sein muss auch mal mit scharfer Bestimmtheit. Und wie überirdisch schön ist denn bitte Tilda Swinton?
An den darauffolgenden Tagen sehe ich unter anderem die beiden Wettbewerbsfilme „Midnight Special“ mit Kirsten Dunst und Michael Shannon sowie den französischen Beitrag „L’Avenir“ mit der großartigen Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Jeff Nichols‘ „Midnight Special“ entwickelt zu Anfang eine regelrecht sogartige Wirkung. Ein achtjähriger Junge (Jaeden Lieberher) ist entführt worden, zwei Männer sind mit ihm unterwegs durch die Nacht. Er trägt eine Schwimmbrille mit blauen Gläsern. Es wird klar, einer der Entführer ist der Vater des Jungen. Aber warum sind hinter den drei die NSA, das FBI und eine Gruppe religiöser Fanatiker her? Warum verfügt der Junge über Informationen, die bei der NSA höchster Geheimhaltung unterliegen? Es fängt alles hochspannend an. Nur leider entwickelt sich „Midnight Special“ mit der Zeit zu einem klassischen Science Fiction Thriller, dem sowohl inhaltlich als auch in der optischen Umsetzung weniger Offensichtlichkeit gut getan hätte. Leider mehr modernes E.T. Drama als mysteriöser Verschwörungsthriller. Das ist alles gut gemacht und streckenweise durchaus spannend, aber dann doch auch nicht so atmosphärisch spektakulär, wie man es sich nach dem starken Anfang gewünscht hätte.
Zu Anfang der Pressekonferenz nehme ich mir vor, Jungdarsteller Jaeden Lieberher zu fragen wie es ist in einem Film mitzuspielen, den anzusehen er eigentlich noch zu jung ist. Aber der 12 jährige, überaus charmante Junge zieht mir sofort den Stöpsel. So abgeklärt und professionell wie er die Fragen der Journalisten beantwortet, vergisst man schnell, dass man es mit einem Kind zu tun hat. Der Hollywood Nachwuchs tickt wohl doch anders als die Kinder Zuhause auf meinem Sofa, von denen sich selbst das ältere beim Genuss von „Midnight Special“ zu Tode gefürchtet hätte.
Dann doch lieber Isabelle Huppert in „L’Avenir“. Obwohl ich keine große Liebhaberin des französischen Erzählkinos per se bin, hat es mich keinen Moment lang gelangweilt dabei zuzusehen, wie Regisseurin Mia Hansen-Løve ihre Hauptfigur durch eine Lebenskrise gehen und denn Sinn am Leben wieder neu entdecken lässt. Wunderbar intensiv und zugleich zärtlich erzählt und stets aufs Beste unterhaltsam.
Und dazwischen und rund herum? Ich entdecke meine Leidenschaft für Dim Sum und trinke Wodka mit Zitrone und Sodawasser. Ich unterhalte mich mit Kostja Ullmann über die absurden Wohnungspreise in Hamburg, lerne lettische Schauspieler, polnische Journalisten und philippinische Filmstudenten kennen, sitze mit Meryl Streep im Kino und auf einer Party lässt Lars Eidinger schon mal die Hosen runter. Der Rausch kann noch ein Weilchen so weitergehen.
Auf der Berlinale unterwegs: Gabi Rudolph