
Die Berlinale ist vorbei. Das macht uns ein bisschen traurig, gibt uns aber auch die Möglichkeit, endlich die vielen Filme, die wir dieses Jahr gesehen haben, endlich richtig zu verarbeiten. Hier kommt eine Auswahl unserer Favoriten. Ein paar davon haben auch schon einen offiziellen Kinostart, sodass ihr sie, solltet ihr sie auf der Berlinale verpasst haben, bald nachholen könnt.
Das Licht
Der Eröffnungsfilm der Berlinale fällt ja oft eher unspektakulär aus. Und auch dieses Jahr sorgte Tom Tykwer mit „Das Licht“ für gespaltene Kritiken. Den Reaktionen des Publikums in den ersten Pressevorführungen nach, hat sich so mancher mit dem Film eher gequält. Wir hingegen haben uns gerne fast drei Stunden lang in seine Welt entführen lassen.
Die Familie Engels, bestehend aus Tim (Lars Eidinger), Milena (Nicolette Krebitz), den gemeinsamen Zwillingen Frieda (Elke Biesendorfer) und Jon (Julius Gause) sowie Milenas aus einer Affäre entstammenden Sohn Dio (Elyas Eldridge), kann man gut und gerne als dysfunktional bezeichnen. Jeder kocht sein eigenes Süppchen, schlägt sich mit seinen eigenen Problemen herum, miteinander kommuniziert wird kaum. Die frisch angestellte, aus Syrien stammende Haushälterin Farrah (Tala Al-Deen) bringt das buchstäbliche Licht in die Familie. Sie sorgt für neue Perspektiven, benötigt die Engels aber auch auf ihrem eigenen Weg.
Tom Tykwer packt in seinem ersten Kinofilm seit 2016 die ganz großen Themen an: Entfremdung von den Menschen, die einem am nächsten stehen sollten, die Angst der Generation Z vor dem Sterben des Planeten, Fluchtbewegung und Entwicklungshilfe, die Suche nach der eigenen Bestimmung. Dafür findet er wuchtige Bilder, von Action-Sequenzen bis zu Musical-Szenen. Allein die Wohnung der Engels ist ein Fest der Ausstattung, ein fast schon lebendig wirkender Kosmos, der das Innenleben seiner Bewohner widerspiegelt.
Nicht jedes Bild, nicht jeder Dialog und nicht jede Idee funktioniert gleich gut, aber allein für seine überbordende Lust am Filmemachen muss man Tom Tykwer danken. „Saftiges Kino“ wolle er machen, sagte er bei der Pressekonferenz zum Film. Und das ist ihm mit „Das Licht“ eindeutig gelungen.
Kinostart: 20. März 2025
Mickey 17

Für „Saftiges Kino“ steht auch der koreanische Kult-Regisseur Bong Joon Ho („Parasite“). In „Mickey 17“ tritt der leicht verpeilte Mickey (Robert Pattinson) auf der Flucht vor Gläubigern eine ungewöhnliche Stelle in der Forschungsstation einer Weltraum-Kolonie an: Im Auftrag der Wissenschaft lässt er sich immer wieder umbringen und zum Leben erwecken, ein sogenannter „Expendable“. 16 Mal ist Mickey bereits gestorben, als es zu einem Fehler kommt: Mickey Nummer 17 wird für tot erklärt und Version Nummer 18 wird erstellt.
Aber Mickey 17 hat überlebt, und eigentlich möchte er auch gar nicht mehr sterben. „Multiples“ sind jedoch aus rechtlichen und moralischen Gründen nicht gestattet und werden deshalb vernichtet. Das wollen weder Mickey 17 noch Mickey 18, aber sie tun sich nicht so leicht, an einem Strang zu ziehen. Denn sie können sich nicht besonders gut leiden.
„Mickey 17“ ist ein wahres Fest an Ausstattung, Action und überdrehtem aber wohlgesetztem Humor. Auf seine verspielte Art wirft der Film aber auch eine Reihe gesellschaftlicher, politischer und philosophischer Fragen auf und setzt alles dran, sie auch zu beantworten. Hinzu kommen nicht nur die großartige Performance von Robert Pattinson im Doppelpack, sondern auch dem Rest des Ensembles, allen voran Mark Ruffalo als narzisstischer Expeditionsleiter und Toni Collette als seine herrlich schreckliche Ehefrau.
Kinostart: 6. März 2025
Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst

Marie Luise Lehners erzählt in ihrem Debütfilm die Geschichte der 12-jährigen Anna (Siena Popović). Anna hat gerade aufs Gymnasium gewechselt und eigentlich schon genug damit zu tun, sich in diesem neuen System zurechtzufinden. Aber bei Anna Zuhause läuft obendrein alles ein wenig anders: sie lebt alleine mit ihrer gehörlosen Mutter (Mariya Menner). Die Wohnung ist klein, das Geld ist knapp und reicht schon mal nicht für das erste große soziale Ereignis, die Skifreizeit.
Manchmal wünscht Anna sich, ihre Mutter wäre wie alle anderen. Dass sie nicht immer diese unmodernen, bunten Klamotten tragen würde und ihr bei den Hausaufgaben helfen könnte. Das kann einem schon mal zu viel werden, wenn man eigentlich damit beschäftigt ist herauszufinden, ob man in den beliebtesten Junge der Klasse verliebt ist. Oder ob man einfach nur so sein möchte wie er.
Zum Glück findet Anna in Mara eine wahre Freundin, die sich für feministische Fragestellungen und queere Lebensentwürfe interessiert. Und als Annas Mutter ungewollt schwanger wird, stellen die beiden fest, dass sie neben aller Querelen doch ein eingeschworenes Team sind. Anna lernt immer mehr, nicht nur zu ihrer Mutter, sondern auch zu sich selbst zu stehen.
„Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst“ ist ein zärtliches Debüt mit viel Gespür für sensible Fragen. Das zum großen Teil jugendliche Ensemble agiert mit viel Lust, und die feministische Perspektive zieht sich vom Soundtrack bis hin zu den kleinsten Nebenfiguren wie ein roter Faden durch den Film. Genau solche Filme wollen wir sehen, ganz viele davon.
If I had legs I’d kick you

„If I Had Legs I’d Kick You“ von Mary Brownstein war einer der besten Filme des diesjährigen Wettbewerbs. Und trotzdem möchte man ihn eigentlich niemandem empfehlen, geschweige denn ihn selbst ein zweites Mal sehen. Rose Byrne spielt darin eine Mutter, die durch die frühkindliche Essstörung ihrer Tochter, ein Loch in der Zimmerdecke, eine vermisste Frau, die sie als Psychologin betreut und nicht zuletzt die eigene Drogensucht an den Rand der Verzweiflung gebracht wird.
Es gibt keine Atempause für Linda. Eine unerträgliche Situation nach der anderen prasselt auf sie ein. Sie muss in ein billiges Motel ziehen, während sie vergeblich versucht, die Handwerker dazu zu kriegen, das Loch in ihrer Wohnung zu reparieren. Ihre Tochter muss bis Ende des Monats ein von der Ärztin gesetztes Gewichtsziel erreichen, weigert sich aber zu essen und wird stattdessen über einen Schlauch ernährt. Die Nächte im Motelzimmer sind vom Piepen und Leuchten der Maschine und dem Wechsel der Beutel mit Kunstnahrung durchbrochen. Eine Patientin verschwindet während der Sitzung und lässt ihren wenige Wochen alten Säugling zurück. Einzig die Sitzungen mit ihrem eigenen Therapeuten (großartig: Conan O’Brien) lassen Linda für einen Moment zur Ruhe kommen.
Um Lindas Situation greifbar zu machen, arbeitet Regisseurin Mary Brownstein mit Horro-Elementen und kreiert so eine nahezu unerträgliche Stimmung aus Rastlosigkeit, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Das Loch an der Zimmerdecke wird zu einer lebenden Entität, gleich dem Loch im Bauch der Tochter, in dem der Nahrungsschlauch steckt. Die Kamera ist die meiste Zeit so nah auf Lindas Gesicht, dass einem schwindelig wird, während die Tochter eine kaum sichtbare, rein akustische Instanz bleibt. Dadurch macht Brownstein auch deutlich, wo die Empathie zu liegen hat: das Kind wird zum nahezu entmenschlichten Nerv-Faktor, die Not der Mutter dadurch umso greifbarer.
Rose Byrne gewann für ihre Darstellung der Linda absolut verdient den Silbernen Bären. Trotzdem möchten wir ihr wirklich nie wieder dabei zusehen, wie sie Pizzakäse in sich hinein schaufelt und das medizinische Schicksal ihrer Tochter buchstäblich selbst in die Hand nimmt.
Lurker

Wirklich schade, dass der Berlinale Palast am letzten Freitag für die Pressevorführung von „Lurker“ weitestgehend leer blieb. Das Regiedebüt von Alex Russell beobachtet nämlich klug und pointiert erzählt das Abhängigkeitsverhältnis zwischen einem narzisstischen Künstler und seinen Fans.
Matthew (Théodore Pellerin) ist Olivers größter Fan. Das verrät er dem aufstrebenden Popstar aber nicht, als dieser eines Tages in dem Klamottenladen auftaucht, in dem Matthew arbeitet. Dank seiner gewitzt geheuchelten Unwissenheit schafft er es zuerst in den Backstage Bereich und schließlich in den engsten Kreis von Olivers Entourage. Die meisten dort sind genervt davon, dass Oliver (Archie Madekwe) immer wieder Fans „adoptiert“ und haben schon viele davon kommen und gehen sehen.
Oliver fühlt sich von Matthew gesehen und beauftragt ihn, Videos für eine Dokumentation zu drehen. Wie vorhergesehen wird er seiner jedoch schnell überdrüssig, und außerdem ist die Art, in der Matthew seine Position versucht zu verteidigen, auch ein bisschen unheimlich. Und tatsächlich scheitern alle Versuche, ihn loszuwerden – bis Oliver sich schließlich fragt, ob er Matthew nicht genauso braucht wie dieser ihn.
„Lurker“ fängt die Welt rund um einen aufstrebenden Popstars in seiner nüchternen Machart überzeugend ein und wirft eine Reihe interessanter Fragen auf: Ist jemand wie Oliver, der so viel Bewunderung und öffentliche Liebe erfährt, überhaupt noch in der Lage, echte zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen? Fans werden ja oft als übergriffig empfunden, aber wie weit ist ein Star auch von ihrer Bewunderung abhängig? Oliver trifft am Ende diesbezüglich eine verblüffende Entscheidung. Und „Lurker“ ist einer der spaßigsten Filme, den wir auf der Berlinale gesehen haben.
What Does That Nature Say To You

Keine Berlinale ohne Hong Sang-soo. Der koreanische Regisseur und Drehbuchautor ist quasi Dauergast bei der Berlinale, was auch seiner großen Produktivität geschuldet ist. Gewonnen hat er in diesem Jahr nichts, aber sein neuer Film „What Does That Nature Say To You“ war trotzdem ein unaufgeregtes Kleinod im Festival.
Darin begegnen wir dem Poeten Donghwa, der sich bereit erklärt hat, seine Freundin Junhee zum Haus ihrer Eltern zu fahren. Obwohl die beiden schon seit drei Jahren zusammen sind, hat Donghwa Junhees Familie noch nicht kennengelernt. Jetzt passiert es eher zufällig – Doghwa staunt über die Größe des Familienhauses, und als Junhee ihm anbietet, es einmal von nahem zu sehen, begegnen die beiden Junhees Vater in der Einfahrt. Aus der Zufallsbegegnung wird eine Zusammenkunft, bei der Donghwa auch Junhees Mutter und ihre depressive Schwester kennenlernt.
Es wird viel gegessen, noch mehr getrunken und vor allem viel geurteilt. Junhees Mutter schreibt ebenfalls Gedichte und interessiert sich für Donghwas Kunst, möchte aber auch wissen, womit er gedenkt in Zukunft sein Geld zu verdienen. Junhees Schwester interessiert sich vor allem für Donghwas wohlhabenden Vater, von dem dieser aber kein Geld annehmen will, und das alte, bescheidene Auto, das Donghwa fährt, gibt der Familie ebenfalls Rätsel auf. „What Does That Nature Say To You“ ist ein d Dialog-lastiger, mit einfachen Mitteln inszenierter Film, der ein wenig Zeit braucht um in Gang zu kommen, letztlich aber in einer unvergleichlich komischen Dinnerszene gipfelt. Jeder der schon einmal das explosive Potential eines Familienfestes erleben durfte, wird sich in diesem unterhaltsamen Spiel aus Erwartungen, Verurteilung und Erkenntnis wiederfinden.
A Complete Unknown

Er war der unumstrittene Star der Berlinale: Timothée Chalamet kam zur Deutschlandpremiere des Biopics „A Complete Unknown“ und brachte den Potsdamer Platz zum Beben. Menschenaufläufe gab es nicht nur von Seiten der Fans vor dem Hyatt Hotel und am Roten Teppich, auch bei der Pressekonferenz gab es ein Hauen und Stechen um die Plätze, wie wir es nur selten erlebt haben.
Ohne Frage, Timothée Chalamet ist einer der größten, vielleicht der größte Star, den das internationale Kino aktuell zu bieten hat. Und das ist er auch nicht umsonst. Während der Pressekonferenz stellte er sich geduldig selbst den dümmsten Fragen zu seinem Gewicht, am Abend auf dem Roten Teppich präsentierte er das, was seine Stylisten sich wahrscheinlich unter dem perfekten Berlin-Outfit vorstellten, einen herrlich hässlichen Traum in Rosa.
Über den Film muss man letztendlich auch gar nicht mehr viel sagen. Chalamet spielt Bob Dylan in einem Biopic, das dem Genre keine nennenswert neuen Bilder oder Erzählperspektiven abringt, und das man trotzdem irgendwie gern hat. Weil Chalamet so viel Herzblut in seine Performance legt, an der er fünf Jahre gearbeitet hat. Weil die Geschichte von Dylans erstem nicht-akustischen Auftritt beim Newport Folk Festival allein für sich so eine schöne Anekdote ist. Und nicht zuletzt weil es außerdem um Joan Baez geht, die von Monica Barbaro kein bisschen weniger großartig dargestellt wird.
Und hach ja, was sollen wir ein Geheimnis draus machen. Wir fanden es einfach wunderbar aufregend, Timothée in Berlin zu haben!
Kinostart: 27. Februar 2025
Auf der Berlinale für uns unterwegs waren Emilie Rudolph und Gabi Rudolph.