Berlinale 2025: Neues aus dem Märchenwald

Im Programm der diesjährigen Berlinale finden sich zwei Filme, die sich auf sehr unterschiedliche Weise einem traditionellen Märchen-Mythos annehmen. Beide bestechen durch eine eigene, sehr unterschiedliche und originelle Ästhetik. Auf ganzer Linie überzeugt aber nur einer der beiden. 

„La Tour de Glace“ von Lucile Hadžihalilović läuft im Wettbewerb. Der vierte Langfilm der französischen Regisseurin spielt in den siebziger Jahren in einem verschneiten, französischen Bergdorf. Die 15 jährige Jeanne (Clara Pacini) verlässt das Waisenhaus, in dem sie lebt seitdem ihre Mutter gestorben ist, und macht sich auf den Weg in die Stadt und damit auf in ein neues Leben. Auf der Suche nach einem nächtlichen Unterschlupf versteckt sie sich in einem Filmstudio, in dem gerade ihr Lieblingsmärchen, Hans Christian Andersens „Die Schneekönigin“, verfilmt wird. Jeanne verfällt dem Charme der wunderschönen, aber eiskalten Schauspielerin Cristina, die die Rolle der Schneekönigin spielt. Cristina entdeckt das Mädchen am Filmset, erkennt sich in ihr wieder und entwickelt eine Faszination für sie. Jeanne steigt von der Komparsin zum Double und schließlich zur Darstellerin auf, während Cristina sie abwechselnd mit Zuneigung belohnt und mit Kälte bestraft. Am Ende muss Jeanne entscheiden, wie weit sie bereit ist, ihr Leben in die Hände der Schneekönigin zu legen. 

Lucile Hadžihalilović zollt mit „La Tour de Glace“ eindeutig den russischen und tschechischen Märchenfilmen der Siebziger Jahre Tribut. Das zieht sich durch Bildgestaltung, Soundtrack und Erzähltempo hindurch und sorgt über weite Strecken für eine sinnliche Faszination. Aber leider verläuft „La Tour de Glace“ darüber hinaus weitestgehend flach. Die Charaktere, allen voran Jeanne und Cristina (etwas facettenlos gespielt von Marion Cotillard), bleiben zum größten Teil unerforscht und auf emotionale Momentaufnahmen reduziert. Und auch etwas mehr Dynamik, überhaupt etwas mehr Handlung über die elegischen Bilder hinaus, hätte dem Film ebenfalls gut getan. 

Sehr wahrscheinlich geht es Lucile Hadžihalilović aber gar nicht um psychologische Tiefe. Sie interessiert offensichtlich einfach der Mythos der kalten Königin, die emotionale Bindung einfordert, ohne Wärme zu schenken. Die Schneekönigin aus dem Märchenfilm und ihre Darstellerin sind in „La Tour de Glace“ eins zu eins miteinander verschmolzen, da ist es vielleicht auch gar nicht von Bedeutung, wie und warum Cristina so geworden ist wie sie ist. Eine gewisse Stärke entwickelt der Film noch einmal zum Ende, wenn er aufzeigt, wie schrecklich die Märchenfigur in Wirklichkeit ist, wenn sie auf raubtierhafte Weise versucht, unschuldige Kinder zur Liebe zu zwingen. 

„Den stygge stesøsteren – The Ugly Stepsister“ , das Spielfilmdebüt der norwegischen Regisseurin Emilie Blichfeldt, erzählt das Grimmsche Märchen vom „Aschenputtel“ als erstaunlich werkgetreuen Body-Horror- Schocker. „The Ugly Stepsister“ hatte Weltpremiere beim Sundance Festival und sorgte dort bereits dank seiner drastischen Bilder für Furore. Bei der Berlinale ist er in der Sektion Panorama zu sehen.

Was tut eine Frau, um den begehrten Märchenprinzen zu bekommen? Spoiler: So ziemlich alles, auch wenn’s weh tut. Während im Märchen sonst die Figur des wunderschönen, aber zu Unrecht geknechteten Aschenputtel im Mittelpunkt steht, nimmt „The Ugly Stepsister“ die Perspektive der weniger schönen Stiefschwester ein. Elviras Mutter Rebekka (Ane Dahl Torp) hat gerade den wohlhabenden, wesentlich älteren Otto geheiratet, um ihrer beider Existenz zu sichern. Leider verstirbt der Angetraute unmittelbar nach der Hochzeit und stellt sich auch als bei weitem nicht so wohlhabend raus, wie Mutter und Tochter angenommen haben. Da hilft nur eins: Elvira (Lea Myren) muss so schnell wie möglich reich heiraten, am besten den Prinzen, der in wenigen Wochen zu einem Ball aufs Schloss einlädt, um seine Zukünftige zu finden.

Das Problem ist nur: Elvira ist von wenig ansprechendem Äußeren. Sie ist zu dick und nicht grazil genug. Ihre Nase ist zu groß und zu krumm. Aber das kann man zum Glück ändern. Mithilfe von Ballett- und Haltungsunterricht und schmerzhaften Besuchen beim Schönheitsdoktor, soll Elvira auf Spur gebracht werden. Die Leiterin der Mädchenschule, die die jungen Frauen des Dorfes auf den Ball vorbereitet, nimmt sich ihrer persönlich an. All die Torturen seien ja nur dazu da, die wahre, in ihr schlummernde Schönheit nach außen zu bringen, sagt sie. Und gegen die überflüssigen Pfunde hat sie auch eine todsichere Wunderwaffe parat, nämlich ein Bandwurmei. 

Unter Einsatz von Blut, Schweiß und Tränen wird Elvira immer schöner. Und tatsächlich darf sie schließlich beim Ball die zentrale Rolle im Jungfrauenballett tanzen. Aber so wie der Bandwurms frisst das Streben nach der perfekten Schönheit sie zunehmend auf. Wenn es am Ende aber nur noch darauf ankommt, dass der richtige Schuh passt, dann soll es auch nicht daran scheitern, dass die Zehen im Weg sind. So haben es schließlich schon die Gebrüder Grimm erzählt.

Emilie Blichfeldts „Aschenputtel“ Adaption ist ein visuell beeindruckendes, cleveres und hoch feministisches Debüt, wenn streckenweise auch nichts für schwache Mägen. Aber vor kaum einem anderen Hintergrund scheint der Einsatz von ekelerregenden Horror-Effekten so viel Sinn zu machen, wie vor dem des weiblichen Schönheitswahns. Wenn man bedenkt, was Frauen jeden Tag für die Optimierung ihres Äußeren alles auf sich nehmen, wirkt das Ganze nur milde übertrieben.

Blichfeldt macht auch nicht den Fehler, dieses Streben zu moralisieren. Vielmehr zeigt sie eindrücklich, dass Elvira und ihre Mutter, sowie all die anderen jungen Frauen, die sich und ihre Körper auf der Suche nach einem Ehemann verknechten, gar keine andere Wahl haben. Und dabei ist der Prinz, der die Damen des Dorfes mit seiner Schönheit und selbst geschriebenen Liebesgedichten betört, letztendlich auch nur ein misogynes Arschloch. 

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