Das war sie also, die „Pandeminale“, wie sie jemand in meiner Social Media Bubble liebevoll bezeichnet hat. Sie fand, von vielen kaum erwartet und zum Teil heftig kritisiert, allen Widrigkeiten zum Trotz, als Präsenzveranstaltung statt. Trotz der damit verbundenen Einschränkungen wird die 72. Ausgabe der Berlinale als Erfolg gewertet. Bei einer Sitzplatzauslastung in den Kinos von 50 Prozent wurden rund 156.000 Tickets verkauft. Auch als Medienereignis stand die Berlinale wieder im Fokus des weltweiten öffentlichen Interesses. Trotz der nach wie vor pandemischen Lage reisten zahlreiche Größen aus dem Filmgeschäft an um ihre Projekte zu präsentieren, unter anderem Emma Thompson, Charlotte Gainsbourg, Juliette Binoche und Colson Baker aka Machine Gun Kelly. Isabelle Huppert hingegen konnte den Ehren-Bären für ihr Lebenswerk nicht persönlich entgegen nehmen, sie musste aufgrund eines positiven Corona-Testes leider per Video hinzugeschaltet werden.
Insgesamt fiel der Glamourfaktor dieses Jahr jedoch deutlich niedriger aus. Ob das tatsächlich an der Pandemie lag oder an dem Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian oder an einer Kombination aus beidem, ist schwer zu sagen. Künstlerischer Leiter Carlo Chatrian ließ bei seinem Amtsantritt im Juni 2019 verlauten, er plane für die Berlinale eine Abkehr vom Starkino. Es lässt sich seit der 2020er Ausgabe durchaus beobachten, dass das Programm sich verändert hat und der Fokus stärker denn je auf Arthouse- und Autorenfilmen liegt. Unmittelbar darauf begann die Pandemie, in deren Anfängen es zu einem nahezu kompletten Stillstand der Filmbranche kam. Es ist ein wahrer Segen, dass sich seitdem Vieles wieder einigermaßen normalisiert hat und wie schnell Wege gefunden wurden, auch unter Corona-Bedingungen Filme zu drehen. Aber die ganz großen Stars liefen bei der ersten physischen Berlinale Ausgabe seit Beginn der Pandemie nicht über den roten Teppich. Es bleibt spannend zu beobachten, wie sich das in den nächsten Jahren entwickeln wird.
Nun, da der Berlinale bedingte Lichtmangel einigermaßen überwunden ist, ist es auch für uns an der Zeit, ein Fazit zu ziehen.
Die Preise
Die Bären wurden in diesem Jahr bereits am Mittwoch verliehen, anstatt wie sonst üblich am Samstag. Bei der traditionellen Gala im Berlinale Palast wurden die von der internationalen Jury (in diesem Jahr unter der Leitung von Regisseur M. Night Shyalaman) ausgewählten Filme und Persönlichkeiten ausgezeichnet. Irgendwie war es in diesem Jahr besonders spannend, lange war es schwer, unter den gezeigten Beiträgen deutliche Favoriten auszumachen. Der große Teil der Filme war erstaunlich unpolitisch, in diesem Jahr überwogen die persönlichen Schicksale. Es ging viel um Liebe und Beziehungen und, hier lässt sich um Glück ein stabiler Trend beobachten, die Sichtweisen von Frauen: Das indonesische Drama „Nana“ handelt von der Freundschaft zwischen einer Ehefrau und einer Geliebten im Indonesien der sechziger Jahre. In „Les passagers de la nuit“ muss Charlotte Gainsbourg als Mutter zweier fast erwachsener Kinder sich nach der Trennung von ihrem Mann neu sortieren. Und „La Ligne“, der allgemein leider schmählich unterschätzten Beitrag der Schweizer Regisseurin Ursula Meier, handelt von einer tief verletzten Frau, die sich nach einem tätlichen Angriff auf ihre Mutter nicht weiter als 100 Meter deren Haus nähern darf.
Tatsächlich war es jedoch einer der wenigen politischen Filme im Wettbewerb, der sich sofort als gesetzt für einen der Bären anfühlte: „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ von Andreas Dresen räumte gleich zwei Preise ab, Laila Stieler gewann für das beste Drehbuch, Meltem Kaptam für ihre Darstellung der Rabiye Kurnaz. Der Film selbst spaltete wie kaum ein anderer die Kritikermeinung, machte für einen Wettbewerbsfilm aber ein paar entscheidende Dinge richtig: Nach wahren Begebenheiten erzählt er die Geschichte des Bremers Murat Kurnaz, der wegen Terrorverdacht dreieinhalb Jahre in Guantanamo inhaftiert war, aus der Sicht seiner Mutter Rabiye Kurnaz. Es ist eine klassische David gegen Goliath Geschichte, wie die türkische Mutter an der Seite des Anwalts Bernhard Docke (schlichtweg großartig: Alexander Scheer) für das Recht ihres Sohnes auf eine faire Verhandlung kämpft, ein Kampf, der sie bis zum Supreme Court der Vereinigten Staaten führt. Andreas Dresen inszeniert den Film warmherzig und mit einer Prise Humor, was der Dramatik nicht unangebracht entgegen steht, alle Figuren und Begebenheiten fühlen sich selbst in den leichtfüßigen Momenten angenehm ernstgenommen an. Und Meltem Kaptam als Rabiye Kurnaz ist wirklich eine Offenbarung.
Auch der Goldene Bär für den besten Film ging in diesem Jahr an einen überaus würdigen Gewinner. „Alcarràs“ von Carla Simón handelt von einer Familie, die den letzten Sommer auf der Pfirsichplantage verbringt, die man seit Jahrzehnten gemeinsam bewirtschaftet hat. Aber das Land wurde dem Großvater damals per Handschlag zugesprochen, der nicht mehr zählt, seit der Sohn des ehemaligen Besitzers sich anschickt, die Bäume abzuholzen und das Gebiet in einen Solarpark zu verwandeln. Jedes Mitglied der Familie Solé hat in diesem Sommer seine eigene Geschichte. Die einen weigern sich, den neuen Besitzer anzuerkennen und treten in die Konfrontation mit ihm, während andere bereit sind mit der Zeit zu gehen und für ihn zu arbeiten. Dazwischen übt die Teenager Tochter für eine Tanzperformance und die Kleinsten spielen einfach weiter, essen Pfirsiche und bauen Hütten aus Obstkisten, während um sie herum die Familienstrukturen zusammenzubrechen drohen. Der Film beobachtet das alles sehr unaufgeregt, in naturalistischen aber satten Bildern, die die Hitze des Sommers genauso spürbar machen wie den Kampf eines jeden einzelnen. Die Familienkonflikte kommen genauso zum Tragen wie die sozialkritischen Bezüge, wenn die Schönheit der Natur dem Fortschritt weichen soll und die Landwirte vor den Großhändlern um faire Bezahlung demonstrieren. „Alcarràs“ ist einer der wenigen Filme, der bereits bei der Pressevorführung mit Applaus bedacht wurde, so rund ist er in seiner Erzählweise und seiner Botschaft. Man gönnt ihm den Bären von Herzen.
Weniger gönnerhaft lässt sich leider die Auszeichnung von Claire Denis für die beste Regie betrachten. Ihr Liebesdrama „Avec amour et acharnement“ hinterlässt viele Fragen, allen voran die, wie ein Film mit Juliette Binoche und Vincent Lindon (zuletzt grenzenlos bewundert in „Titane“)in den Hauptrollen so gnadenlos in die Hose gehen kann. Wir sehen darin dem augenscheinlich glücklichen Paar Sara und Jean dabei zu, wie sie ihre Beziehung gegen die Wand fahren, als Saras Ex-Beziehung Francois zurück in ihr Leben kehrt. Aus unerfindlichen Gründen flammt Saras Leidenschaft für ihn sofort wieder auf, obwohl Francois kein besonders sympathischer Zeitgenosse ist und sie bis vor kurzem doch noch sehr glücklich mit Jean war. Am Ende sind alle unglücklich oder vielleicht auch einfach nur beleidigt, man weiß es nicht. Dazwischen passiert nicht viel und man fragt sich relativ schnell, warum man sich das Ganze eigentlich antut. Zu guter letzt will man uns auch noch weismachen (Achtung, Spoiler!), dass jetzt alles vorbei ist, weil Sara ihr Handy in die Wanne gefallen, nicht zu reparieren ist und sie deshalb Francois Nummer nicht mehr hat. Hat die gute Frau keine Cloud? Ganz schön altmodisch dafür, dass der Film am Rande sogar die Pandemie thematisiert. Der einzige Trost, der an dieser Stelle bleibt ist, dass „Un été comme ça“ von Denis Côté nicht ausgezeichnet wurde, der ähnlich missraten ist.
Unbedingt erwähnt werden sollte auch der Preis für den besten Dokumentarfilm, der am Ende vielleicht der politischste Beitrag des gesamten Festivals war. „Myanmar Diaries“ wurde von einem Kollektiv aus zehn jungen, burmesischen Filmemachern realisiert, die ihren Preis nicht persönlich in Empfang nehmen konnten, da die politische Lage in ihrer Heimat sie dazu zwingt, anonym bleiben zu müssen. „Myanmar Diaries“ ist ein erschütterndes Zeitdokument, das schonungslose Bilder aus Myanmar nach dem Militärputsch am 1. Februar 2021 zeigt, die man so noch nicht gesehen hat und aus denen hervorgeht, wie brutal die Militärregierung gegen die zivilen Proteste vorgeht. Verbunden werden die zum Großteil mit Handys gemachten Aufnahmen mit kurzen, inszenierten Spielszenen, die eine sehr eigene, ganz seltsam zarte Bildsprache sprechen. Ein schockierender und gleichzeitig anrührender Film, der beweist, was für eine explosive Macht das Kino immer noch haben kann.
Überraschungen
Auch in diesem Jahr ließen sich auch abseits des Wettbewerbs wieder ein paar echte Perlen entdecken. „Baqyt“ von Askar Uzabayev aus Kasachstan ist so ein Film, von dem man sich fragt, warum er es nicht unter die Wettbewerbsbeiträge geschafft hat. Immerhin gewann das schonungslose Drama um häusliche Gewalt in der Sektion Panorama den Publikumspreis. Das spricht tatsächlich für einen großen Willen der Zuschauer*innen, sich mit diesem wichtigen Thema auseinander setzen, denn viel Freude im klassischen Sinne macht „Baqyt“ tatsächlich nicht. Aber die Inszenierung des grauen, brutalen und höchst frauenfeindlichen Klimas in Kasachstan, die Performance von Hauptdarstellerin Laura Myrzakhmetova und die dichte, erschreckend glaubwürdige Handlung bis hin zu einem kaum zu ertragenden, qualvollen Finale, machen „Baqyt“ zu vielleicht dem einen Film, den wenn man ihn einmal gesehen hat, nie mehr vergessen wird.
Ebenfalls im Panorama lief „A Love Song“, das Langfilmdebüt des Amerikaners Max Walker-Silverman, ein Film mit einer komplett anderen Atmosphäre. Auf einem einsamen Campingplatz an einem See mitten in der nordamerikanischen Landschaft, wartet Faye auf ihre Jugendliebe Lito. Beide haben durch den Tod ihre Partner verloren, nun treffen sie sich nach langer Zeit wieder um herauszufinden, ob sie vielleicht ein Stück des Weges gemeinsam gehen wollen. Mit der wunderbaren Dale Dickey in der Hauptrolle zeigt der Film mit viel Liebe Menschen, die in der zweiten Hälfte ihres Lebens angekommen sind und sich noch nicht so ganz darin fügen wollen, dass es das nun gewesen sein sollte. Ganz zart, mit leiser Romantik, wie ein gutes Liebeslied.
Wenn bei manchen Filmen das Gefühl des großen Kinos etwas zu kurz kam, „Gangubai Kathiawadi“ hatte mehr als genug davon. Regisseur Sanjay Leela Bhansali hat damit etwas wirklich Besonderes geschaffen: einen feministischen Bollywood Film. Man muss sich tatsächlich ein wenig daran gewöhnen, dass hier mit den klassischen Mitteln des Bollywood Kinos – farbenprächtige Bilder, ein dramatischer Score, Tanz- und Musikszenen und ab und zu auch einer Prise Overacting – ein sozial relevantes Thema erzählt wird. Für einen der größten Mainstream Märkte der Welt und in einem Land, in dem Frauenrechte ein erschreckend brisantes Thema sind, ist das ein großer, wichtiger Schritt. Der Film basiert lose auf der wahren Lebensgeschichte von Gangubai Harjivandas, die, selbst Prostituierte, sich in den sechziger Jahren für die Rechte ihrer Zunft einsetzte. Gespielt wird sie von Alia Bhatt, der man mit dieser Performance wirklich einen internationalen Durchbruch wünscht. Mit ihrer Badass Attitüde trägt sie den gut zweieinhalbstündigen Film lässig auf den Schultern und zeigt ihre Größe sowohl in den komischen als auch in den dringlichen Momente.
Und sonst so?
Es war Berlinale, was soll man sonst noch sagen? Es war so schön, sie wieder zu haben. Und mit der Zeit konnte man sich auch fast einbilden, alles sei wie früher. Gut, ehrlich gesagt wirklich nur fast. Ich erinnere mich an ein Jahr, in dem ich mich während der Berlinale gefühlt von Dim Sum und Wodka ernährt habe. Das Pandemie-taugliche Äquivalent dürften wohl Donuts und Kaffee sein. Ein für seine unerträglich guten, veganen Donuts berühmter Laden direkt am Potsdamer Platz wurde zum unverzichtbaren Treffpunkt zwischen den Filmen, der Boston Creme zum Hauptnahrungsmittel. Dadurch, dass ich mir während der Pandemie den zugegebenermaßen etwas zwanghaften Gebrauch eines Schrittzählers angewöhnt habe, kann ich aber beruhigend hinzufügen: man bewegt sich während der Berlinale tatsächlich mehr als man denkt! Und abschließend lobend erwähnt werden sollte an dieser Stelle unbedingt das gesamte Servicepersonal des Festivals. Überall wird man nicht nur freundlich, sondern regelrecht herzlich begrüßt, beraten und des Weges gewiesen. Das fiel in diesem Jahr besonders auf, da man hinter den Masken das Lächeln noch nicht einmal unmittelbar sehen konnte. Die Berlinale hat bewiesen, dass sie auch in der Pandemie diesen ganz besonderen Vibe hat, dank dem man sich bei ihr sofort regelrecht Zuhause fühlt.