Berlinale 2022: Befreit die Frauen (aber richtig)!

Auch dieses Jahr lässt sich bei der Berlinale wieder positiv beobachten, dass Filmemacher*in aus diversen Ländern die Auseinandersetzung mit weiblichen Filmfiguren suchen, die mehr als nur Beobachterinnen sind, sondern die Handlung aktiv vorantreiben. Nicht nur Beziehungen und Liebe, sondern die konkrete Beobachtung weiblicher Lust bildet das zentrale Narrativ in zwei Filmen, die inhaltlich und formal unterschiedlicher nicht sein könnten und dem Thema vor allem sehr unterschiedlich gerecht werden. 

„Good Luck To You, Leo Grande“

In der britischen Komödie von Regisseurin Sophie Hyde und Autorin und Produzentin Katy Brand spielt Emma Thompson die Lehrerin Nancy Stokes, die sich in einem Hotelzimmer mit Callboy Leo Grande (Daryl McCormack) trifft. Sex hatte sie in ihrem Leben bisher nur mit einem einzigen Mann, ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann, und dieser war für Nancy auch nicht besonders lustvoll. Einen Orgasmus hatte sie noch nie, aber diesen strebt sie auch mit Leo nicht an, man wolle ja realistisch bleiben. Was sie genau möchte, ist Nancy sich noch nicht so sicher, die erste Begegnung der beiden dreht sich vor allem um ihre Unsicherheit und die Frage, ob die ganze Aktion von vorne herein ein Fehler war. Leo hingegen lässt keinen Zweifel aufkommen, dass er seinen Job liebt, dass er ihn freiwillig macht und sich von Nancy, entgegen ihrer Angst, in keiner Weise ausgebeutet fühlt. Er ist nicht nur charmant, sondern auch auf ehrliche Weise an seinem Gegenüber interessiert, bereit, in jeder Begegnung Erfüllung zu schenken und sie selbst auch zu finden. Und so kommt es, nach einem anfänglich etwas holperigen Start, zu drei weiteren Begegnungen.

Nancy ist effizient, sie hat sich eine Liste mit Dingen gemacht, die sie einmal in ihrem Leben ausprobiert haben möchte. Oralsex, passiv wie aktiv und Doggy-Style, zum Beispiel. Leo soll ihr behilflich sein, diese Liste abzuarbeiten, sein Ziel ist es jedoch, die Sache etwas weniger sportlich anzugehen und stattdessen den Moment zu genießen. Doch es gibt viele Schichten von eingefahrenen Verhaltensmustern, die Nancy überwinden muss: die Ablehnung gegenüber ihrem eigenen Körper, den übermäßigen Respekt vor dem augenscheinlich perfekten jungen Mann, die Angst vor der eigenen Lust. Bis sie am Ende völlig verwandelt sich selbst vor dem Spiegel gegenübersteht, nackt und völlig pur, ohne Scham und frei von dem über Jahrzehnte hinweg angezogenen Bedürfnis, sich vor sich selbst zu verstecken. 

Der Film begleitet Nancy auf ihrem Weg dahin, beobachtet, wie sie sich ihrer Befreiung mehr und mehr annähert und dabei so manche Hürde nimmt, schlichtweg meisterhaft. Was beginnt wie eine klassische Romcom mit einem pointierten, schnellen Schlagabtausch zwischen Nancy und Leo, entwickelt sich nach und nach zu einer höchst sensiblen Charakterstudie mit perfekt getimten, sensibel geskripteten Dialogen und einer Performance von Emma Thompson, die an Tiefgang und Ehrlichkeit kaum zu überbieten ist. Und auch Daryl McCormack trifft mit seiner Darbietung des Leo den perfekten Ton. Seine Leidenschaft für die intime Begegnung mit Menschen aller Couleur wirkt erfrischend ehrlich, trotz seiner offensichtlichen Schönheit ist er dabei angenehm uneitel und zugänglich. Als Nancy in ihrer Zuneigung zu ihm eine Grenze überschreitet, legt er eine überraschende Härte an den Tag und lässt ohne große Erklärungen blicken, dass das Leben als Callboy nicht so edel und harmonisch ist, wie er es gerne Glauben machen möchte. 

In seiner augenscheinlichen Leichtigkeit erzählt „Good Luck To You, Leo Grande“ die tieftraurige Geschichte einer Frau, die von ihrem privaten Umfeld und anerzogenen gesellschaftlichen Konventionen die erste Hälfte ihres Lebens in dem Glauben verbracht hat, dass körperliche Erfüllung etwas ist, das das Leben schlichtweg für sie nicht bereit hält und sich beinah kampflos darin gefügt hätte. Die Intensität und Ehrlichkeit, mit der Emma Thompson sich ihre Figur zueigen macht, berührt zutiefst, es ist die pure Freude Nancy dabei zuzusehen, wie sie sich Schicht um Schicht entblättert und innerlich wie äußerlich immer schöner wird. Es ist fast bedauerlich, dass „Good Luck To You, Leo Grande“ keine Weltpremiere ist und deshalb außer Konkurrenz läuft, Emma Thompson hätte jeden möglichen Preis verdient. Bei der Pressekonferenz zum Film erzählt sie außerdem sehr offen, wie nah ihr das Thema persönlich geht. Viel zu viele Frauen werden sich in irgendeiner Form in Nancy wiederfinden, gepresst in Konventionen und zu Scham und Selbstzweifeln erzogen. Im besten Fall kann Sophie Hydes lustiger und berührender Film dazu beitragen, dass sie den gleichen Weg wie Nancy gehen.

„Un été comme ça“

Der Frankokanadier Denis Côté ist beliebter Gast auf der Berlinale, zum siebten Mal wird einer seiner Filme gezeigt, diesmal sogar im Wettbewerb. „Un été comme ça“ erzählt die Geschichte dreier hypersexueller Frauen, die in einer Art psychologischem Workshop sich mit ihrem zwanghaft sexuellen Verhalten auseinander setzen wollen. Zumindest wird das zum Anfang als Ziel erklärt, darüber, was sie mit ihrem Aufenthalt eigentlich erreichen wollen, wird man als Zuschauer*in die folgenden fast zweieinhalb Stunden weitestgehend im Unklaren gelassen. Eine ungewöhnliche, umstrittene Herangehensweise verspricht die hochschwangere Workshop-Leiterin Mathilde, wird dann aber von ihrer aus Deutschland kommenden Kollegin Octavia (Anne Ratte-Polle) vertreten, deren Haltung gegenüber den drei Frauen den ganzen Film über mysteriös bleibt. Sie dürfen in einem wertfreien Raum von ihren Erlebnissen berichten, sie dürfen sogar Drogen nehmen und natürlich auch Sex haben, verboten soll nichts werden, nur irgendwie schön will man es miteinander haben. Da nimmt eine der drei die beiden Workshopleitenden (ein Mann ist auch dabei, es muss ja ein Objekt zum Anschmachten geben, das im besten Fall etwas Sand ins Getriebe streut), direkt beim Wort und macht sich auf, die in der Nähe trainierende Freizeitfussballmannschaft zu befriedigen. 

Auf der Pressekonferenz zum Film fällt berechtigterweise die Frage, ob es angebracht sei, dass ein Mann einen Film über die sexuelle Psychologie von Frauen macht. Côté versucht sich relativ schwammig damit zu rechtfertigen, dass es ihm in seiner Charakterstudie nie um Geschlechter, sondern rein um Menschen geht. Man kann jetzt nicht allen männlichen Filmschaffenden der Welt absprechen, dass das grundsätzlich nicht funktionieren könnte, aber Côté zumindest schafft es erschreckend zielsicher, in sämtliche nur denkbaren Fallen zu tappen. Seine Frauen sind alle jung, hübsch, schlank und sexy. Sie räkeln sich dauerlasziv durch die Gegend, rollen mit den Augen und lecken sich permanent die Lippen. Oder sie sind von Zwangsneurosen gebeutelte Missbrauchsopfer, die sich auf destruktive Weise selbst wegwerfen müssen, um überhaupt noch etwas zu fühlen. Diagnostisch wird hier alles in einen Topf geworfen und völlig unreflektiert behandelt – die schlichtweg übermäßige Lust am Sex, die niemandem schadet und nur von der Gesellschaft negativ bewertet wird, genauso wie die psychische Zwangsstörung, die ganz dringend einer vernünftigen Behandlung bedarf und unter der die Betroffene massiv leidet. Die selbst mit ihrem eigenen Privatleben hadernde Octavia zumindest hat all dem wenig entgegen zu setzen, außer den immer gleichen nachdenklichen Schmollmund, und Sozialarbeiter Sami ist wahrscheinlich das langweiligste männliche Wesen, das auf Erden wandelt. Vielleicht soll seine Figur ja der Verdeutlichung dienen, wie kaputt die drei Damen sind, denn dass ihn jemand als Sexobjekt betrachten könnte, kann man sich nur schwer vorstellen.

Rein filmisch hat „Un été comme ça“ ebenfalls wenig zu bieten. Die reizlose Kameraführung klebt meist viel zu nah an den Gesichtern, ein Spannungsbogen ist nicht vorhanden, eine Geschichte sowieso nicht und selbst die sexuelle Provokation findet zum größten Teil nur verbal statt. Als am Ende mit Champagner und Musik gefeiert wird, dass 26 Tage lang erfolgreich schlichtweg nichts passiert ist, beglückwünscht Sami Octavia zu dem harmonischen, erstaunlich ereignislosen Retreat. Besser hätte er den Film kaum auf den Punkt bringen können. Was genau Denis Côté mit all dem ausdrücken wollte, bleibt unklar. Ist Hypersexualität etwas, an der sich nur die Beobachtende Gesellschaft stößt oder eine Krankheit, unter der die Betroffenen leiden? Oder eventuell sogar beides? Zu diesem wichtigen Diskurs hat er leider nichts beizutragen. 

Mit dem Filmpodcast „Popcorn & Lakritz“ durfte Gabi in dieser Folge unter anderem über „Good Luck To You, Leo Grande“ sprechen:

Und in dieser unter anderem über „Un été comme ça“: