Alfie Templeman im Interview: „In deinem Kopf ist so viel, das erst noch entdeckt werden muss“

Immer wenn ich mit Künstler*innen spreche, die sehr viel jünger sind als ich, frage ich mich automatisch, wie ich in dem Alter war. Alfie Templeman ist gerade mal 19 Jahre alt, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich mit 19 derart viel auf dem Kasten hatte. Damit meine ich nicht nur, dass der Brite seit seinem 15. Lebensjahr Musik veröffentlicht, die er komplett selbst schreibt, einspielt und produziert. Auch die Art, wie ernsthaft, ehrlich und reflektiert er sich mit seiner eigenen Gefühlswelt und deren Tücken auseinandersetzt, versetzt mich ein bisschen in Staunen. 

Eigentlich sollte die Zeit zwischen 17 und 19 eine der bewegtesten des eigenen Lebens sein, in der man großzügig Erfahrungen sammelt und immer leicht am Limit lebt. Für einen aufstrebenden Musiker, dem seine ersten Veröffentlichungen bereits viel Aufmerksamkeit eingebracht haben und auf dessen offizielles Debütalbum mit Spannung gewartet wird, müsste das eigentlich mindestens doppelt gelten. Aber stattdessen kam die Pandemie, und Alfie Templeman fand sich in der Isolation wieder, die er, wie er offen zugibt, irgendwann nur noch mithilfe von Antidepressiva überstand – und nicht zuletzt dank seiner Fähigkeiten, ganz allein seine Musik zu machen.

Im Gespräch sinnieren wir darüber, ob diese vermissten Jahre sich irgendwie wieder aufholen lassen. Inzwischen ist das Leben zum Glück zum größten Teil aus seiner Schockstarre zurückgekehrt. Alfie hat inzwischen seine erste Deutschlandtournee gespielt und sein Debütalbum im Kasten. „Mellow Moon“ heißt es und ist voller schillernder Popperlen ist, die so fröhlich klingen und dabei oft von todtraurigen Dingen und Gedanken handeln. Der zweistellige Altersunterschied zwischen uns fließt mühelos davon. 

Ende März hast du deine ersten Konzerte in Deutschland gespielt. Ich habe ich dich in Berlin gesehen.

Oh, wirklich? Wie fandest du es?

Das war eine richtig gute Show. 

Oh, das ist so nett von dir. Das freut mich. 

Die Stimmung war extrem super. Und mir ist aufgefallen, dass du ein sehr vielfältiges Publikum hast.

Das hat mich ehrlich gesagt selbst überrascht. Bei der letzten Tour, die wir gespielt haben, bestand das Publikum hauptsächlich aus weiblichen Teenagern. Ich will überhaupt nicht sagen, dass Teenage Mädchen sich nicht für genial gute Musiker*innen interessieren. Das tun bestimmt viele von ihnen. Sie hören ja Alfie Templeman (lacht). Aber es ist schon schön, auch mal ältere Leute und andere Musiker*innen zu den Konzerten kommen zu sehen.

Ich hatte meine Tochter dabei, sie ist 16. Und ich muss sagen, wir hatten beide gleich viel Spaß.

Das ist toll.

Und am nächsten Tag habe ich mich mit einem anderen Musiker darüber unterhalten und der meinte, auf großes Talent können sich einfach alle einigen.

Oh Mann, das ist so nett! 

Aber ich glaube, das ist schon richtig. Ich meine, Prince war in deinem Alter, als er sein erstes Album komplett alleine geschrieben, aufgenommen und produziert hat. 

Das stimmt. Er ist so verrückt. Ich meine, er war so verrückt. Er hat 27 Instrumente auf seinem ersten Album gespielt. Das setzt die Dinge ganz schön in eine andere Perspektive. Lächerlich (lacht).

Und er musste sich diesbezüglich ganz schön durchsetzen. Niemand hat ihm das damals zugetraut. Ich könnte mir vorstellen, dass sich das heutzutage ein bisschen geändert hat? Dass die Strukturen nicht mehr so verhärtet sind?

Ja. Man kann mehr selbst entscheiden, das ist die gute Seite heutzutage. Du bist viel freier und kannst im Prinzip die Musik machen, die du machen willst. Das ist gut. Und sehr nützlich, wenn du als Künstler*in den Drang und die Fähigkeiten hast, alles selbst zu machen. Ich versuche es zumindest.

Du machst wirklich alles selbst, oder? Auch die Produktion?

Ja, das tue ich. Ich schreibe meine eigenen Sachen, nehme sie selbst auf und produziere sie. Genauso wie Prince, nur nicht so gut (lacht). Aber gut, Prince ist Prince, das ist etwas anderes. Aber ich bin gerne eine One-Man-Band. Ehrlich gesagt habe ich gerade meine Gitarre neben mir liegen und nehme zwischen den Interviews immer schnell etwas auf, kleine Demos und so, Ideen, die mir in den Kopf kommen. Ich komme ja gerade frisch von der Tour wieder. 

Das muss sehr inspirierend sein, oder?

Ja! Ich fühle mich total wiederbelebt. Ich wusste nicht, ob es so sein würde. Als ich zurück kam, war mein Kopf erst total total benebelt, ich konnte eine ganze Weile nicht geradeaus denken. Alle Ideen, die ich hatte, waren im Prinzip „shitty pop ideas“ (lacht). Also habe ich mir eine Woche frei genommen zum Schreiben. Inzwischen schreibe ich mehr Sachen, die in die Richtung Grizzly Bear gehen. 

Das klingt super. 

Na ja, mal gucken (lacht). Aber vielen Dank.

Diese Zeit, als nichts los war und wir alle zuhause bleiben mussten, die hat dich doch bestimmt sehr beeinflusst, oder?

Oh ja, definitiv. Es war ein Teufelskreis. Ich hatte viel mehr Zeit um Aufnahmen zu machen, habe aber keine guten Lyrics geschrieben, weil ich nirgendwo hin konnte und keine richtigen Erfahrungen machen konnte. Als ich das einmal überwunden hatte und als wir so langsam aus der Pandemie rauskamen, habe ich mich ziemlich frisch gefühlt, habe viel geschrieben und das Album fertig gestellt. Ich hatte viele Ideen, die schon ein bisschen älter waren und endlich die Zeit, sie fertigzustellen und besser zu machen. Ich war siebzehn, als ich mit dem Album angefangen habe und achtzehn, als es fertig war. Nebenbei musste ich auch noch erwachsen werden und ein bisschen was über mich selbst rausfinden (lacht). 

Soweit ich weiß, bist du in einer ziemlich musikalischen Familie aufgewachsen.

Ja, aber mein Dad ist Linkshänder, weshalb ich keine seiner Gitarren spielen konnte. Meine Mutter hat die ganze Zeit Musik gehört. Aber mein Vater hat mich schon an die Musik gebracht. Er hatte mehrere Gitarren. Mich hat immer mehr Schlagzeug interessiert, also habe ich das zuerst gelernt und später erst Gitarre. Das Songschreiben kam irgendwann dazwischen. Im Prinzip konnte ich Songs schreiben, sobald ich ein bisschen Gitarre spielen konnte. 

Um endlich auf dein Album zu kommen – ich mag, dass die Songs sowohl für sich sehr gut funktionieren, als auch, dass es im Gesamten eine Geschichte zu erzählen scheint. 

Das tut es! Das Ding ist, dass niemand wirklich weiß, was dort oben im Weltraum wirklich abgeht – und mit deinem Kopf ist es genau das gleiche. In deinem Kopf ist so viel, das erst noch entdeckt werden muss. Da muss man richtig graben. Das ist das Thema von „Mellow Moon“, dass da so viel mehr in deinem Bewusstsein ist, als du überhaupt fassen kannst. Das habe ich in den letzten paar Jahren gelernt. 

Deine Texte sind… wie sage ich es… tiefsinnig klingt vielleicht so cheesy…

Nein, das kommt schon ganz gut hin. Meine Texte sind viel tiefsinniger geworden. Ich weiß nicht, ob das Absicht war. Aber sie sind es. Ich bin offener geworden, was meine Gedanken und meine Gefühle angeht und das Ergebnis ist, dass ich auch Songs schreibe, die irgendwie „deep“ sind (lacht). Vielleicht sogar ein bisschen deprimierend. Aber die Musik ist nicht deprimierend. 

Ich meine, wie du in „Broken“ über das Gefühl singst, sich irgendwie kaputt zu fühlen…

(lacht) Ja, das ist definitiv tiefsinnig. Ich glaube jeder von uns hat sich in den letzten Jahren kaputt gefühlt. Mindestens einmal. Oder zweimal. Einfach das Gefühl, dass irgendwas nicht richtig funktioniert. Man kann nicht aus einer Pandemie herauskommen und sich super fühlen. Das versuche ich auszudrücken. So viel ist passiert. 

Ich habe auch das Gefühl, dass es die jüngere Generation irgendwie härter getroffen hat. Für mich sind das zwei Jahre von vielen anderen, ich glaube, ich kann das besser weg stecken.

Das stimmt wirklich. Ich war 17, als es angefangen hat. Das ist eins der entscheidenden Jahre, in denen man viel über sich selber lernen soll. Ich leide immer noch darunter, das verpasst zu haben. Ich habe das Gefühl, ich habe meine Gedankenwelt noch nicht richtig verstanden und weiß nicht, was ich wann fühlen soll. Also ja, ich fühle mich immer noch oft komisch. Und Songs sind meine Art, damit umzugehen. Und gleichzeitig… mich da draußen zu zeigen… es macht mich heute noch nervös, Künstler zu sein. All das, was man tun muss… die Leute sehen zu einem auf, das macht mir ganz schön Angst. Es ist eine riesige Sache. Ich habe mich vor ein paar Jahren selber doch noch nicht gekannt, wie können diese Leute denken, dass sie mich kennen? Das geht doch gar nicht. Ich kenne mich selber kaum. Ich komme immer noch nicht damit klar, dass es Leute gibt, die jeden Tag meine Musik hören. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich bin 19, ich sollte es auch noch nicht wissen. 

Es ist ein bisschen wie in der Öffentlichkeit aufwachsen, oder?

Genau, das ist es. Es kann einen kaputt machen, weil man manchmal vergisst, dass man ein Privatleben hat. Manchmal mag ich es nicht. Manchmal schon. 

Ich habe wirklich großen Respekt davor. Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Ich bin schon immer nervös wenn ich ein Interview veröffentliche, ob es sich richtig liest und ob mein*e Gesprächspartner*in sich richtig verstanden gefühlt hat.

Die Tatsache, dass du dir diese Gedanken machst, das ist mehr als so ziemlich die meisten Journalist*innen tun würden. Den Anspruch zu haben, dass der*die Künstler*in sich verstanden fühlt, das ist ein großer Schritt. Das ist großartig. Es ist eine Herausforderung, sich in den Kopf seines Gegenübers zu versetzen. Ich glaube, Singer-Songwriter*innen haben eine besondere Art mit ihren Gefühlen umzugehen, sonst wären sie nicht dort, wo sie sind. Da ist etwas an der Musik, das sie dazu bringt, jeden Tag aufzustehen und etwas zu machen, im Gegensatz zu den normalen Dinge des täglichen Lebens. Ich glaube, mehr Musiker*innen sind neurodivers als man denken würde. ADHS und Musik gehen in vielerlei Weise Hand in Hand. Wenn du Songs schreibst, funktioniert dein Gehirn auf eine ganz andere Weise, als wenn du Matheaufgaben löst. Ich denke, das erklärt auch, warum so viele Musiker*innen schlecht in der Schule waren oder sie abgebrochen haben. Einfach, weil sie mit anderen Dingen beschäftigt waren, die genauso toll oder noch toller waren, als seine Examen zu bestehen und sich einen Job zu suchen. Es ist großartig, dass wir diese Plattform haben und uns auf diese Weise ausdrücken können. Gleichzeitig ist die Frage, wenn ein*e Musiker*in als Person schon nicht konform mit der Gesellschaft geht, wie soll ihr*ihm diese Plattform gut tun? Diese Menschen sind so schon übersensibel. In der Öffentlichkeit zu stehen kann sehr hart sein. Es steckt mehr dahinter, als Songs zu schreiben und auf Tour zu gehen. Ich habe darüber viel in letzter Zeit nachgedacht. 

Ganz ehrlich? Die Kunst einen Song zu schreiben ist für mich persönlich wie ein mysteriöser, glitzernder Diamant. Ich habe keine Ahnung, wie ihr das macht.

Oh, man kann es ganz unterschiedlich machen. Man kann auch einen langweiligen Popsong schreiben und sich dabei keine große Mühe gehen (lacht). Hauptsache er landet im Radio. So funktioniert es heutzutage leider oft. Ich versuche, nicht so zu sein. Ich stecke viel Liebe und Fürsorge in jeden Song, den ich schreibe und gebe jedem von ihnen eine Bedeutung. Eher als mich daran aufzureiben, dass mein Song in den Charts landen soll. Das bedeutet mir nichts. Mir geht es nur darum, Musik zu machen. Dafür bin ich hier, das ist mein Job. Und dass ich den machen kann, ist einfach nur großartig. 

Und man kann definitiv Popmusik machen, die Spaß macht und gleichzeitig bedeutsam ist.

Oh ja. Nimm mich als Beispiel! (lacht) Das ist alles, worum es mir geht. Wenn ich einen Popsong schreibe, dann weil ich wirklich Bock habe, einen zu schreiben. Und nicht weil ich Geld damit verdienen will. 

Hast du Peter Jacksons Beatles Dokumentation gesehen?

Nicht komplett, aber sehr viel davon. Und auch da konnte man sehen, wie sehr sie mit sich gekämpft haben, oder?

Absolut! Ich habe gedacht, das muss doch vielen Musiker*innen Trost spenden, wie schwer es selbst die Beatles hatten.

Wenn die Beatles mit sich gekämpft haben, dann muss niemand sich dafür schämen. Aber die Beatles hatten es nie besonders leicht. So vieles ist bei ihnen falsch gelaufen. Brian Epstein, ihr Manager, ist gestorben. Die ganze Karriere, die sie hatten… sie waren die ersten, die es auf dieses Level gebracht haben. Gott weiß, was in ihren Köpfen abgegangen ist. Es muss hart gewesen sein.

Ich muss zugeben, ich war früher nie der größte Beatles Fan. Aber je länger ich mich mit Musik beschäftige, umso faszinierter bin ich davon, dass im Prinzip alles auf die Beatles zurück geht.

Das tut es! Die Beatles haben einfach alles gemacht. Das ist ganz schön cool, oder? Jedes Schlagzeug, das du heute hörst, klingt wie Ringo Starrs Breakbeat aus den Sechzigern. Total verrückt. 

In deinem Fall bringt mich das zu dem letzten Song auf deinem Album, „Just Below The Above“. Kurze Anekdote: Als ich das Album zum ersten Mal gehört habe, ging es irgendwie, ohne dass ich es gemerkt habe, mit dem letzten Song los. Ich fand das einen ganz erstaunlichen Einstieg. 

(lacht) „Was für ein komisches Album!“ 

Es macht Sinn, das Album so zu beenden.

Da war ich wirklich heiß drauf, dass das der letzte Song wird. Ich finde ihn großartig, es ist mein Lieblingssong auf dem Album. Super Pink-Floyd-y, ein bisschen Queen mit drin, eine Spur Radiohead am Anfang… alle meine Lieblinge sind drin. 

Aber es wäre auch ein ziemlicher Bad-Ass-Anfang gewesen.

Verdammt. Ich hätte das so machen sollen. 

„Mellow Moon“ von Alfie Templeman erscheint am 27.05.2022.