Zwei Live-Alben parallel in den deutschen Top 10, die erfolgreichste Tour der 18 jährigen Bandgeschichte – Fettes Brot machten in diesem Jahr mit sicheren Midas-Händen alles zu Gold, was sie in die Finger bekamen. 2010 – Das Jahr der Brote. Als wir im Oktober letzten Jahres die Band zum Gespräch treffen, ahnen wir noch nicht, dass es ein Abschiedsinterview werden wird. Ein Abschied auf unbestimmte Zeit? Für immer? Es bleibt Hoffnung. Und viel Schönes, auf das man zurück blicken kann.
Großes findet man bekanntlich oft dort, wo man es am wenigsten vermutet. Im Hinterhof eines unscheinbaren Gebäudekomplexes in Hamburg klemmt hinter einem Fenster ein Zettel, der darauf hinweist, dass sich hier die Studios der Band Fettes Brot befinden. Das nennt man wohl gepflegtes Understatement.
Als wir durch die Gittertür eintreten, kommt Björn Beton auf uns zu und begrüßt uns freundlich. König Boris und Dokter Renz fläzen sich im Hintergrund auf grünen Ledersesseln, aber auch sie erheben sich sofort, und es werden reihum Hände geschüttelt. Von innen fallen die Räumlichkeiten auch nicht protziger aus. Eine Küchenzeile, ein Esstisch, an der Wand ein Klavier auf dem jemand, den Noten nach zu urteilen, zuletzt die „Songs of David Bowie“ gespielt hat. Nicht wirklich „Bling Bling“. „Wir können euch noch nicht mal einen Tee anbieten“, entschuldigt sich Björn Beton, als wir uns setzen. Macht nichts, schließlich habe ich gerade erst einen halben Liter Cola getrunken. „Na das ist doch was.“ Er grinst. „So wertvoll wie ein kleines Steak.“
Auf den zweiten Blick fällt auf, dass alle drei nicht besonders frisch aussehen. Björn Beton trägt keine Brille und blinzelt noch ein wenig verschlafen. Dokter Renz hält sich Halt suchend an seiner Kaffeetasse fest und König Boris sieht ebenfalls etwas blass aus. Stimmt, da war doch etwas. Am Vorabend haben Virginia Jetzt ihr Abschiedskonzert gegeben, und ich habe gehört, Fettes Brot hätten der befreundeten Band einen Gastauftritt beschert. „Woher weißt Du das denn schon?“ fragt Dokter Renz. Ja, ich bin gut informiert. Ich helfe auch gerne aus, wenn Fettes Brot im Lauf des Gesprächs mit Monats- und Jahreszahlen durcheinander kommen. Denn wir möchten gerne wissen, wie es war. 2010, dieses von außen betrachtet so unglaubliche Jahr. Das Jahr der Brote. „Ist das jetzt die erste und letzte Frage des Interviews?“ fragt Björn Beton. Und schon sind wir mittendrin.
„War das dieses Jahr?“
„Ich finde Jahresrückblicke schwierig, weil ich nicht so wirklich in Jahresabschnitten lebe. Deshalb muss ich mich immer anstrengen mich zurück zu erinnern, wann genau was war,“ sagt Björn Beton. Ja, das merkt man. „War das dieses Jahr?“ fragen die drei sich des öfteren untereinander. Zur Orientierung stehen vier Videodrehs, zwei Touren, ein Festivalsommer und die Veröffentlichung der beiden Live-Alben „Fettes“ und „Brot“ zur Verfügung. Jetzt müssen wir das alles nur noch in die richtige Reihenfolge bekommen.
Im rekordkalten Winter begann das Jahr mit dem Videodreh zur Neuauflage des 1996er Hits „Jein“. Das Western-Thema des Originalvideos wurde von Regisseur Daniel Warwick für das neue Jahrtausend zeitgemäß aufgepeppt und der Drehort vom kuschelig warmen Mexiko ins bitterkalte Brandenburg verlegt. Nix Spezial-Effekte, der Schnee im Video ist echt. „Wir haben wahnsinnig gefroren“, erzählt Björn Beton. Dokter Renz unterbricht ihn. „Außer dir, du warst wenigstens in Alu Folie gewickelt.“ Auch beim kurz darauf in Hamburg gedrehten Video zur zweiten Singleauskopplung „Kontrolle“ (bei dem Björn Beton erstmals Regie führte) wurde kräftig gefroren. Das Besondere an diesem Video: Fans der Band konnten aktiv, nicht nur als Statisten an den Dreharbeiten mitwirken. Mit Handy- und Fotokameras steuerten sie auch Bildmaterial bei, das zum Teil im fertigen Video zu sehen ist. Ich stelle fest, dass trotz eisiger Kälte die meisten Fans beim Außendreh keine Handschuhe trugen. „Wir haben heißblütige Fans“, erklärt mir Dokter Renz.
„Wann kam dann gleich nochmal das Album raus?“ fragt Björn Beton. „Im März würde ich sagen“, meint Dokter Renz. Februar, meine ich. „Februar, März“, sagt er und sieht mir offensichtlich an, dass ich mir sicher bin. „Februar. Du weißt es.“ Gut, es war der 26. Februar. Irgendwie haben wir beide recht. Wie auch immer, danach ging er erst richtig los, der Wahnsinn.
„Der Status-Quo Fettes Brot 2010 in Bronze gegossen“
„Wir sind übrigens die erste Band seit 20 Jahren, die mit zwei Alben gleichzeitig in den Top 10 war. Das nur mal so, ein bisschen Angeberei nebenbei“, sagt König Boris. Guns N’ Roses waren es, denen dieses Kunststück zuletzt mit ihren „Use Your Illusions“-Alben gelang.
Und jetzt also Fettes Brot mit ihren beiden Live-Alben, dem blauen und dem orangen, aufgezeichnet während der Touren 2008 und 2009. Über 500 Aufnahmen gab es, von denen 31 es auf die zwei CDs geschafft haben. Für die Auswahl zeichnet André Luth verantwortlich, der noch während der Tour, oft unmittelbar nach dem Auftritt, die Aufzeichnungen auswertete und die besten Aufnahmen herauspickte. „Man ist ja nicht so richtig objektiv wenn man sich selber zuhört, von daher ist es ganz gut, wenn das jemand macht, der ein bisschen Abstand hat und man nicht Gefahr läuft, seinen eigenen Eitelkeiten zu erliegen“, begründet König Boris diese Vorgehensweise. Dass das Endergebnis sich durchaus sehen lassen kann, darin sind sich alle einig. „Wir haben gemerkt, jetzt ist der Zeitpunkt, die Musik, die wir live spielen auch nochmal auf Platte herauszubringen. Weil sie sich so unterscheidet von dem, was wir ursprünglich auf den Alben bei den gleichen Liedern gespielt haben“, sagt Dokter Renz. „Der Status Quo Fettes Brot 2010 in Bronze gegossen – da gab‘s bisher keinen passenderen Zeitpunkt für. Es war ein langer Weg, bis es fertig war, aber es hat sich gelohnt. Klar haben wir hin und wieder darüber geredet ob jetzt diese oder jene Version geiler war, aber eigentlich hatte André ein feines Gespür dafür.“
Es folgte der erste Teil der Tour, und zur Überraschung aller entwickelte sie sich zur erfolgreichsten der Bandgeschichte. Viele Konzerte waren im Eiltempo ausverkauft, andere mussten in größere Hallen verlegt werden – und waren am Ende trotzdem ausverkauft. So zum Beispiel das Konzert in Köln, das letztendlich in der ausverkauften Lanxess Arena stattfand und mit 15000 Zuschauern zum bis dato größten Hallenkonzert der Band avancierte. „Anfangs hat uns das alles irritiert und irgendwann nur noch gefreut“, erzählt Dokter Renz. „Das Schöne war, dass wir die großartige Band Die Orsons dabei hatten, die das alles so souverän mitgemacht haben. Wir haben viel Tischtennis gespielt und abends tausende von Menschen glücklich gemacht. Viel mehr geht eigentlich nicht.“ „Stimmt“, sagt König Boris. „Und dann?“
Das Ausmaß dieses Erfolges haben sich Fettes Brot noch nicht so recht bewusst gemacht. So wie sie das alles erzählen, wirkt es, als bräuchten sie noch etwas Zeit um zu realisieren, was dieses Jahr mit ihnen passiert ist. „Wir haben natürlich gemerkt, dass die Leute das mögen, was wir machen“, sagt Björn Beton. „Auf der Tour waren wahnsinnig viele Leute da in riesigen Hallen. Es gibt natürlich Bands, die zwischendrin ein Live-Album herausbringen, das dann so unter ‚ferner liefen‘ vor sich hin dümpelt und mehr was für ausgesprochene Fans der Band ist. Es ist unsere erste Live-Platte gewesen, die dokumentiert natürlich auch unsere Entwicklung als Band, gerade mit unseren Musikern zusammen, die wir nun ja schon seit vielen Jahren dabei haben. Deshalb haben wir uns schon gedacht, dieses Album ist für uns was ganz Besonderes. “ Und König Boris fügt hinzu: „Den Erfolg kriegt man gar nicht richtig mit, wenn man so mitten drin steckt. Das sieht man erst mit ein bisschen Abstand. Klar sieht man, man spielt in vollen Hallen, aber man reflektiert das nicht so, weil man zu sehr damit beschäftigt ist, das, was man gerade vor der Brust hat, anständig über die Bühne zu bringen. So richtig drüber nachgedacht haben wir noch nicht. Ich glaube, nächstes Jahr im Frühling können wir nochmal darüber sprechen, wie gut das Jahr war.“ Sehr gerne. „Ist aber auf jeden Fall gut, solche Gespräche zu führen, dann vergisst man nicht, was alles Gutes passiert ist“, sagt Dokter Renz und erntet damit viel Gelächter.
„Der Zweifel gehört dazu“
Im Sommer stand der Videodreh zur dritten Single „Falsche Entscheidung“ an, bei dem erneut Björn Beton die Co-Regie übernahm. Und da Fussball immer noch wichtig ist und zufällig gerade WM war, nutzte man die Gelegenheit, sich in Schiedsrichter-Outfits zu werfen und dabei nicht nur Knie, sondern gleich noch ein bisschen mehr Haut zu zeigen. Wenn die Dusch-Szene von einem weiblichen Fan auf Facebook auch mit den Worten kommentiert wurde, sie müsse sich doch überlegen, ob sie sich wegen Fettes Brot scheiden lassen wolle – persönlich machen sich Fettes Brot um falsche Entscheidungen zum Glück nicht allzu viele Gedanken.
„Selbst die Sachen, die Misserfolge waren oder die im Nachhinein betrachtet nicht so gut geworden sind wie wir uns das gewünscht haben, sind so, dass ich denke, das ist eine Erfahrung, die wir wohl machen mussten. Wir sind als Band ja durch das eine oder andere Tal der Tränen durchgegangen“, konstatiert König Boris ohne Gram. Zweifel aber sind legitim und durchaus erwünscht, findet Dokter Renz. „Zweifel ist natürlich eines jeden Künstlers Steckenpferd, der Zweifel gehört dazu. Aber wenn wir eine Sache gemacht haben, können wir sie entweder rückwirkend als Erfolg einordnen und uns auf die Schulter klopfen oder aber sagen Mensch, hätte man auch nochmal anders machen können, war jetzt aber auch nicht so schlimm.“ „Aber wenn man ehrlich ist“, ergänzt König Boris, „der Haufen mit den Erfolgen ist doch deutlich größer als der mit den Misserfolgen.“ „Wie schön!“ ruft Björn Beton aus, und wir lehnen uns für einen Moment zurück, um diese Erkenntnis gemeinsam zu genießen.
Es macht wirklich Spaß, sich mit Fettes Brot zu unterhalten. Von den vielen kleinen Witzen und Schlagfertigkeiten am Rande, die man von den dreien sowohl auf der Bühne als auch in Interviews gewöhnt ist mal abgesehen – es ist einfach eine Freude, mit wie viel Geduld und Spaß Dokter Renz, König Boris und Björn Beton nach 18 Jahren immer noch über ihr Schaffen sprechen. Wie viele Interviews, wie viele Fragen in diesen Jahren zusammen gekommen sein müssen, kann man sich schwer vorstellen. „Wir wurden schon richtig viele Sachen gefragt, auch absurde und solche, auf die wir nicht antworten wollten“, sagt König Boris. Aber gibt es auch etwas, das Fettes Brot noch nie gefragt wurden? Etwas, das vielleicht so nahe liegend ist, dass sie sich wünschen, man würde ihnen diese Frage doch endlich einmal stellen? Zum ersten Mal herrscht Schweigen und kollektives Achselzucken. „Was für einen Mikrofon-Vorverstärker benutzt ihr eigentlich“, wirft Björn Beton schließlich ins Rund. „Über solche Fragen würde ich mich freuen.“ „Da musst du dich mal mit der Zeitschrift ‚Keyboard‘ unterhalten“, rät Dokter Renz ihm mit der für ihn typischen Mischung aus Schalkhaftigkeit und Ernst, und fügt abschließend hinzu: „Ansonsten fühlen wir uns nett ausgefragt und nicht über Gebühr strapaziert.“ Da freuen wir uns aber!
„Virale Verunsicherung der Bevölkerung“
Im Oktober kursieren plötzlich seltsame Videos im Netz, die Fettes Brot bei einer Reihe mysteriöser Aktionen zeigen, wie dem Erklimmen eines Müllberges oder dem Stapeln von Autoreifen. Was es mit diesen Videos auf sich hat, wollen sie uns zum damaligen Zeitpunkt nicht verraten. „Nur ein bisschen virale Verunsicherung der Bevölkerung“, formuliert Dokter Renz es geheimnisvoll, während Björn Beton es auf seine Art auf den Punkt bringt: „Einfach nur Unsinn kann man es auch nennen.“ Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Als Ende Oktober das Video zu „Amsterdam“, der vierten Single des Jahres, erscheint, ergeben auch die albernen Clips plötzlich einen Sinn.
„Amsterdam“ erschien erstmals 2008 als B-Seite der Single „Ich lass dich nicht los“ und entpuppte sich auf Konzerten als wahrer Publikumsliebling. Und obwohl das Jahr bis zu diesem Zeitpunkt an Irrsinn kaum mehr zu überbieten scheint (und immer noch ein zweite Tournee ansteht), hecken Fettes Brot etwas ganz Besonderes aus, um mit ihren Fans die Veröffentlichung der Single zu feiern. Sie fahren gemeinsam mit 500 von ihnen nach Amsterdam, absolvieren auf dem Weg dorthin an einer Raststätte einen Kurzauftritt und geben Abends mit voller Bandbesetzung ein exklusives Clubkonzert. Für diejenigen, die das Glück hatten, bei einer der Gewinnaktionen eins der begehrten Tickets zu ergattern, wird der Trip nach Amsterdam zum Höhepunkt des Jahres. Da kann man sich schon insgeheim die Frage stellen: Was soll danach noch kommen? Hätten wir das mal nicht zu laut gesagt.
„Wir können nichts anderes und wir können nicht anders“
Am 19. November dann die große Überraschung. Fettes Brot veröffentlichen eine Pressmitteilung, in der sie bekannt geben, dass sie ab dem Jahr 2011 eine Schaffenspause auf unbestimmte Zeit einlegen. Nach dem Jahr der Brote nun die große Pause? Darüber wollen wir gar nicht nachdenken. Aber wer einen Rückblick auf 2010 wirft, dem dürfte einleuchten, dass Fettes Brot sich eine Auszeit verdient haben. Und so zeigen sich die meisten treuen Fans in ihren Kommentaren auf der Internetseite der Band verständnisvoll und freuen sich erst einmal auf die zweite Tour in diesem Jahr. Was danach kommt ist ungewiss. Sollte es eventuell sogar ein Abschied für immer sein? Es gibt Hoffnung, dass dem nicht so ist. Denn wie sagte Dokter Renz so schön im Gespräch mit uns? „Wir können nichts anderes und wir können nicht anders.“
Bleibt nur noch danke zu sagen für 18 Fette Jahre. Dafür, dass wir damals auf unseren Abi-Parties zu „Nordisch By Nature“ getanzt haben und heute selbst unsere Kinder wissen, dass man die Finger besser von Emanuela lässt. Zum Glück sind wir nicht allzu nah am Wasser gebaut. Macht es gut, Jungs!
Interview: Gabi Rudolph