Charli xcx schreibt Geschichte neu mit „Brat and it’s completely different but also still brat”

Lange bevor das digitale Zeitalter und die sozialen Medien alles auf das individuelle Ego ausrichteten, wurde Kunst als kollektiver Prozess betrachtet. Shakespeare, der wohl größte Schriftsteller aller Zeiten, übernahm seine besten Ideen aus bereits existierenden Texten und passte sie an, um sie in neue Werke umzuformen. Jahrhunderte bevor Musik aufgenommen und Worte niedergeschrieben wurden, gehörten Volkslieder und Geschichten dem Publikum ebenso wie den Darbietenden und veränderten sich mit jeder Nacherzählung oder Neuaufführung ein wenig. Der Ruf eines Künstlers beruhte darauf, wie gut er aus Altem Neues schaffen konnte. In unserer Zeit ist dieser Prozess des Überarbeitens und Umschreibens für den Feminismus, Queer Studies und Diaspora-Studien von entscheidender Bedeutung geworden, da so unterdrückerische Ideologien aufdeckt bisher zum Schweigen gebrachte Stimmen gehört werden können. Auch in Electronic Dance Music ging es schon immer um Remixing und Sampling, um Künstler, die sich gegenseitig „antworten“ und so einen endlosen Flickenteppich aus Melodien und Texten entstehen lassen. Lange vor der Postmoderne wurde die Idee eines einzigen Textes mit einer festen Bedeutung von einem einzigen Autor entlarvt.

Charli XCXs erste Meisterleistung besteht darin, all dies auf „Brat and it’s completely different but also still brat”anzuwenden. Die zweite, daraus ein Album zu machen, das irgendwie, unglaublich, sogar noch besser ist als das Original. Das ist keine leichte Aufgabe: Vier Monate später hat „Brat“ seinen Platz nicht nur in der Musikgeschichte, sondern in der Geschichte überhaupt eingenommen. Es ist nicht nur eines der von der Kritik am meisten gefeierten Alben des Jahrzehnts, sondern hat auch eine Farbe (das Limetten-„Brat“-Grün des Covers), einen ganzen Sommer, Hunderttausende von Memes und Tiktok-Tänzen und endlose Diskussionen in den sozialen Medien definiert. Es wurde selbst von der Frau, die wahrscheinlich die nächste US-Präsidentin wird, vereinnahmt, seine Bedeutung wurde von Politikern im Primetime-TV ernsthaft hinterfragt. 

Eine avantgardistische, eher nischenartige Künstlerin aus dem linken Spektrum

In unserem Zeitalter des Scrollen, in dem selbst noch dreiminütige Popsongs beschleunigt oder in 30-Sekunden-Segmente zerlegt werden, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu halten, hat „Brat“ nun fast ein halbes Jahr lang das kulturelle Bewusstsein beschäftigt – Tendenz steigend. Es ist möglicherweise die genialste Marketingkampagne unserer Zeit. Aber eine mit einem schlagenden Herzen und einer überzeugenden, lebenswichtigen Botschaft im Kern. Das Originalalbum erforschte die Subjektivität einer Millennial-Frau an der Schnittstelle zwischen Jugend und Reife. Es war ehrlich, ungeschminkt und scheute sich nicht, als „Brat“ bezeichnet zu werden. Es legte das oft beschämende Gefühle von Unzulänglichkeit, Eifersucht, komplexen Frauenfreundschaften, Mediendruck, Trauer, Zukunftsängsten und einer unverhohlenen Liebe zu harten Partys offen. Dahinter stand eine felsenfeste, langfristige künstlerische Vision. 

Einer der spannendsten Aspekte von „Brat“ ist, dass Charli xcc für seinen Eroberungszug keinerlei Kompromisse eingehen musste. Als avantgardistische, eher nischenartige Künstlerin aus dem linken Spektrum mit einer stark queeren Fangemeinde hatte xcc mit dem kommerziellen Pop-Album „Crash“ aus dem Jahr 2022 experimentiert und damit die besten Verkaufszahlen, aber auch die schlechtesten Kritiken ihrer Karriere erzielt. Es war nicht authentisch und sie selbst fand es letztendlich unbefriedigend. Mit „Brat“ kehrte sie zu ihren Club-Wurzeln und dem charakteristischen Hyperpop-Stil zurück, den sie über ein Jahrzehnt hinweg verfeinert hatte, und arbeitete mit dem Produzenten A.G. Cook und der verstorbenen, großartigen SOPHIE zusammen. Sie wusste, dass es ein gutes Album war, hätte aber nie gedacht, dass es den Mainstream ansprechen würde. Sie entschied sich, gegen den Rat ihres Kreativteams, für das „grüne Cover“, das nur mit dem stark verpixelten Albumtitel verziert war, anstatt für ein teures Fotoshooting, weil sie dachte, dass sie so zumindest etwas Geld sparen könnte. 

Der schwindelerregende Erfolg von „Brat“ machte Charli xcx zu einem der größten Acts der Welt. Viele, die sich über ein Jahrzehnt lang dafür eingesetzt haben, hierher zu kommen, würden die Gelegenheit ergreifen, ein riesiges Ego zu pflegen und das Rampenlicht fest auf sich selbst zu richten. Nicht so Charli xcx. Sie war schon immer eine Künstlerin, die gerne mit anderen zusammenarbeitet: Selbst auf ihrem Crossover-Album „Charli“ aus dem Jahr 2019 waren Namen zu hören – Lizzo, HAIM, Christine & the Queens, Troye Sivan – die zu diesem Zeitpunkt alle weitaus bekannter waren als sie. Sie setzt sich seit langem für weniger bekannte queere Künstler*innen wie Kim Petras ein und arbeitet mit ihnen zusammen, um ihnen zum Erfolg im Mainstream zu verhelfen. Remixe und Kooperationen sind heute in den kommerziellen Musikcharts allgegenwärtig, aber oft besteht der Verdacht, dass es dabei mehr um die Ankurbelung des Verkaufs oder einen viralen TikTok-Moment geht, als um übergreifende kreative Ideen. Zu oft werden auch Künstlerinnen als Features auf Tracks von Männern gecastet, wobei sie selbst nur wenig der Lorbeeren und finanziellen Erträge zu sehen bekommen. 

„Famous but not quite“

Es ist beispiellos, dass an einem Projekt einer Künstlerin nicht nur einige der mächtigsten Frauen der Musikszene (Billie Eilish, Ariana Grande, Lorde, eine nicht namentlich genannte Dua Lipa), sondern auch einige der renommiertesten männlichen Künstler und Produzenten der Branche – Bon Iver, Jon Hopkins, The 1975, Julian Casablancas – beteiligt sind. Es erfordert auch eine echte Abwesenheit von Ego, den Wettbewerb anzunehmen, anstatt ihn zu fürchten, und diejenigen anzuerkennen, die einem auf dem Weg zum Erfolg geholfen haben. Was die Zusammenarbeit bei diesem Album auch so bemerkenswert macht, ist, dass es nicht um Starpower geht, sondern um eine liebevolle Hommage an all jene, die xcx in den mehr als zehn Jahren, in denen sie „famous, but not quite“ geworden ist, gekannt, beeinflusst und mit ihr zusammengearbeitet haben. 

Die meisten Remix-Versionen hier halten sich musikalisch eng an ihre Originaltracks, lenken sie aber noch mehr in Richtung Tanzfläche. Viele von ihnen wurden bereits diesen Sommer bei xccs Boiler-Room-Clubnächten in den USA und Europa vor ekstatischen Menschenmengen vorgestellt, wie zum Beispiel die Version von „Club Classics“ von bb trickz und der Remix von „Von Dutch“ von Addison Rae und A.G. Cook. Der „365“-Remix mit Shygirl macht noch süchtiger als das Original, während die Bladee-Version von „Rewind“ das wirbelnde, psychedelische Outro des Originals mit einem spannenden Effekt verdoppelt. 

In den Liedtexten überarbeitet und schreibt Charli xcx zusammen mit ihren Mitstreiter*innen einige der kraftvollsten Erzählungen aus dem Original „Brat“ neu. Indem sie den musikalischen Wurzeln der meisten Tracks treu bleibt, wird der Dialog zwischen dem Original und dem Neuen verstärkt. Individuelle Perspektiven werden zu gemeinsamen Erfahrungen, und der Lauf der Zeit ermöglicht neue Sichtweisen, die manchmal zum Besseren, manchmal zum Schlechteren führen. Das ikonischste Beispiel dafür ist nach wie vor „Girl So Confusing“ mit Lorde, eine Antwort auf die Meditation des Original-Tracks über die schwierige Beziehung zwischen xcx und einer damals noch namenlosen Musikerkollegin. Der Song stellt den Macho-Diss-Track auf den Kopf und entlarvt auf geschickte Weise, wie die Branche Frauen gegeneinander ausspielt, indem er xccs subjektive Sichtweise in ein schonungslos ehrliches Gespräch und eine Lösung zwischen den beiden Frauen verwandelt. Ein unglaublich origineller musikalischer Moment, der mit einem echten, rührenden Gelübde der gegenseitigen Unterstützung endet („I ride for you Charli/You know I ride for you too“), das einfach nur verzweifelt bewegend sein kann.

Typisch Charli xcx

Es gibt viele weitere eindrucksvolle Beispiele für diese feministische Neubewertung. Der Remix von „Guess“ mit Billie Eilish, in dessen Video Eilish mit einem riesigen Bagger die Wand von xccs Party durchbricht, verwandelt die (vermutlich heterosexuelle) Anmache des Originals in einen vollwertigen Ausdruck lesbischer Begierde. In nicht allzu ferner Vergangenheit war die Vorstellung, dass ein Hetero-Schwarm entlarvt werden könnte, etwas, wovor queere Menschen Angst hatten. Hier ist es einfach ein lautes, stolzes Kompliment: “Charli likes boys but she knows I’d hit it…Charli call me if you’re with it.”  „Apple“, einer der größten viralen Hits von „Brat“, wird durch einen Remix mit The Japanese House ebenfalls queerer. Es erfordert Mut und wenig Ego, in einem Interview ehrlich über die Befürchtung zu sprechen, dass ein Song vielleicht zu sehr nach jemand anderem klingt, und dann diejenige Künstlerin dazu zu bringen, auf dem Remix mitzuwirken, aber auch das ist typisch für Charli xcx. 

An anderer Stelle wird das ikonische „360“ über junge Internet-„It-Girls“ zu einer ermutigenden Meditation über Alter und Erfahrung in den Händen der langjährigen xcx-Kollegen Robyn und Yung Lean“I started so young, I didn’t even have email,” scherzt Robyn ironisch, während sie demonstriert, warum Coolsein nicht nur Jugendlichen vorbehalten ist. In „Talk talk“ macht Troye Sivan, ein weiterer häufiger xcx-Mitarbeiter, die heterosexuelle Liebesgeschichte queer und dekonstruiert gleichzeitig die Art und Weise, wie schwule Männer innerhalb der Heteronormativität als unterwürfige Twinks fetischisiert werden können. 

„Brat and it’s completely different but still brat“ macht viel Spaß. Aber es hat auch eine echte emotionale Tragweite. „Sympathy is a Knife“ mit Ariana Grande brodelt vor feministischer Wut. Das Original war nach innen gerichtet und erforschte Gefühle der Unzulänglichkeit angesichts einer berühmteren Rivalin, die Taylor Swift sein könnte oder auch nicht. Im Remix werden die Emotionen nach außen gekehrt, um die Misogynie einer Branche anzuprangern, die erfolgreiche Frauen nur allzu gerne schlecht macht. Der Song gibt Grande und xcc die Möglichkeit, ihren Kritikern zu antworten: “Cause it’s a knife when you’re finally on top/’Cause logically the next step is they wanna see you fall to the bottom”. 

„Everything is Romantic“ im Duett mit Caroline Polachek gibt xcc den Raum, über die Verrücktheit der letzten vier Monate nachzudenken. Während das Original eine schwindelerregende, berauschende Tour durch die Anfänge von xccs Beziehung zu ihrem jetzigen Verlobten George Daniel war, konzentriert sich der gedämpftere, aber ebenso kraftvolle Remix stattdessen auf die Bande weiblicher Freundschaft. Sie ruft Polachek, eine alte Freundin und Kollegin, mitten in der Nacht aus einem Hotelzimmer an und überlegt, wie sie all die Teller, die sie jetzt unsicher jongliert, drehen und trotzdem ein Leben haben kann. 

Dann gibt es noch „So I“, einen der herzzerreißendsten Tracks auf „Brat“, über unverarbeitete Trauer nach dem Tod einer von xcxs engsten Mitarbeiterinnen, der Produzentin SOPHIE. Der Remix beschleunigt das Tempo, um den Lauf der Zeit widerzuspiegeln, und ermöglicht es xcx und A.G. Cook, sich an gemeinsame freudige Momente auf und abseits der Bühne zu erinnern, SOPHIE Tribut zu zollen und die tragische Erzählung, die queeren Stimmen allzu oft zugeschrieben wird, neu zu schreiben:  “First time I ever felt alive on stage/In Texas in matching latex/That’s as cool as I’m ever gonna feel”.

Aber jedes nachhaltig feministische Projekt muss sich auch mit der Rolle der Männer auseinandersetzen. Und daraus entstehen einige der erstaunlichsten musikalischen und lyrischen Momente des Albums. Im „Brat“-Universum sind auch Männer verletzlich, einfühlsam, unterstützend und nachdenklich. Julian Casablancas fungiert als Duettpartner auf einer neuen Version von „Mean Girls“, die als Indie-Sleaze-Hyperpop-Originaltrack gelten könnte und bekräftigt, dass das Patriarchat für uns alle schädlich ist. Bon Ivers Remix von „I Think About It All the Time“ verwandelt den frauenzentrierten Song über das klassische Dilemma zwischen Karriere und Mutterschaft in einen Dialog und ein gemeinsames Thema und stürzt xcx gleichzeitig in neue musikalische Gewässer. 

Das Innere nach außen kehren und das Individuum zum Kollektiv machen

Und dann gibt es noch „I Might Say Something Stupid“ mit The 1975 und Jon Hopkins. Viele werden hier die Augen rollen, nur um dann von Matty Healy, abseits von Taylor und dem Internet, völlig entwaffnet zu werden, der auf die Schwanzwitze und die Versuche, schlau zu sein, verzichtet. Stattdessen entsteht ein offenes, emotionales Geständnis über buchstäbliche und metaphorische Impotenz mit einer wunderschönen Produktion, in der Healy, der vielleicht noch nie so verletzlich geklungen hat, offenbart, dass auch er sich „famous but not quite“ fühlt. Diese drei Songs führen die an ihnen Beteiligten in neues, aufregendes Terrain, indem sie den unverwechselbaren Sound jedes einzelnen nehmen und daraus etwas völlig anderes machen, das aber immer noch ganz sie selbst sind. 

Mit ihrem „Brat“ Projekt schreibt Charli xcx Geschichte neu: darüber, wie Frauen miteinander und mit Männern umgehen, wie sie in der Musikindustrie nach ihren eigenen Vorstellungen erfolgreich sein können, wie künstlerische Zusammenarbeit aussehen und was sie bewirken kann. Unterdrückung hängt oft mit Isolation zusammen und damit, dass wir das Gefühl haben, unsere Fehler und unsere Erfolgschancen lägen allein in unserer eigenen Hand. Letztendlich entfesselt dieses Album die Kraft, das Innere nach außen zu kehren und das Individuum zum Kollektiv zu machen. „Brat“ sind wir alle und wir sind alle „Brat“. Und wir sind alle willkommen.

www.charlixcx.com

Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch erschienen und wurde ins Deutsche übersetzt. Das Original lest ihr hier.