„11:11“ heißt das neue Album des Bandkollektivs Pinegrove, und am Ende unseres Gesprächs entwickeln Frontmann Evan Stephens Hall und ich diverse Theorien dafür, was der Titel bedeuten könnte. Bis dahin haben wir uns bereits 40 Minuten angeregt über Zoom unterhalten. Evan Stephens Hall hat eine bewegte Zeit hinter sich, das sieht man ihm an und spürt man. Nach tiefgreifenden, persönlichen Umwälzungen, die in einem einjährigen Hiatus endeten, wartete um die Ecke, kaum dass Pinegrove zurück auf die Bühne gefunden hatten, bereits die Pandemie und mit ihr die nächste, diesmal weniger freiwillige Pause. Amperland, das geliebte Heim und Studio der Band wurde aufgelöst, Bandtreffen wurden zu einem nahezu unüberwindbaren Hindernis und das alles in einer Welt, die in vielerlei Hinsicht völlig aus den Fugen geraten ist.
Smalltalk ist nicht sein Ding, Evan Stephens Hall sucht die Tiefe und arbeitet spürbar hart daran, sich seiner Position und der damit einhergehenden Verantwortung als Mensch bewusst zu sein und ihr gerecht zu werden.
Erzähl mir, wie geht es dir? Es sind so verrückte Zeiten. Und es hört auch irgendwie nie auf verrückt zu sein, oder?
Da sagst du was. Ich würde sagen, es geht mir durchwachsen. Es gibt so Vieles, das man verarbeiten muss. Und ich habe zum Glück das Songschreiben, das hilft mir dabei. Seit meiner Kindheit ist das für mich einer meiner wichtigsten emotionalen Coping Mechanism. Dieses Album hat mir entscheidend dabei geholfen zu verstehen, was in 2020 alles passiert ist. Ich habe das meiste im Sommer 2020 geschrieben, als man wieder einmal sehen konnte, wie unserer Regierung Geschäfte wichtiger sind als die Bevölkerung. Wir durften eine sehr mutige, ambitionierte Bürgerrechtsbewegung beobachten, die sich auf der ganzen Welt ausgebreitet hat, als die Menschen in Solidarität mit George Floyd protestiert haben. Und wir mussten immer drastischere Wetterphänomene erleben. Im Prinzip sieht es so aus, als stünde jeden Sommer die gesamte Westküste in Flammen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen sich viele Menschen heutzutage befinden, will ich gar nicht erwähnen. So viele Dinge passieren und verstärken sich gegenseitig. All das hat auch mein persönliches Leben beeinflusst. Wie könnte es nicht? Ich bin ein sehr sensibler Mensch, solche Dinge erschüttern mich schwer. Ich bin immer noch dabei mich zu erholen. Und ich glaube vielen Menschen geht es so.
Ich habe das Gefühl, dass die Dinge sich immer schwerer in äußerlich und innerlich unterscheiden lassen.
Ja!
Man hört das auch in deinem Songwriting. Deine persönliche Gefühlswelt und sozialer Kommentar zu dem was in der Welt passiert, vermischen sich viel stärker.
Du hast absolut recht, das hat sich sehr verändert. Ich glaube es ist so: Politik ist ein Thema geworden, das sich nicht mehr diskret behandeln lässt. Früher hat man das mehr getrennt, nach dem Motto: hier kannst du darüber sprechen, aber nicht Zuhause beim Abendessen. Als „Marigold“ raus kam und unsere komplette Tour gecancelt wurde, saß ich alleine in meiner Wohnung und hatte keinen Plan. Ich glaube ich habe 55 Bücher in dem Jahr gelesen. Ein interessanter Nebeneffekt davon, dass wir jetzt alle so lange zuhause waren, ohne dass wir viel zu tun hatten war, dass wir alle viel mehr Zeit hatten genau hinzuschauen, was alles da draußen passiert.
Wie hat sich 2020 für dich persönlich weiter entwickelt? Ihr habt es immerhin geschafft, die Arbeit an eurem Album aufzunehmen.
Ja. Das ging einher mit endlosen Diskussionen darüber, ob es vernünftig ist, für so etwas zusammen zu kommen. Am Ende haben wir uns entschieden für eine Kombination aus wohl kalkuliertem Risiko – das war ja noch vor der Möglichkeit sich zu testen, wohlgemerkt. Wir haben also verabredet, dass wir uns erst zwei Wochen isolieren und dann zusammen kommen. Und sobald wir zusammen sind, sehen wir niemand anderen, da waren wir richtig streng. Es geht ja nicht nur darum zu verhindern, dass wir selbst krank werden, sondern auch dass wir es an niemanden weiter geben, für den es am Ende ein größeres Risiko darstellt als für uns. Wir haben also diese penibel kalkulierten Sessions gemacht und einen Teil remote aufgenommen, was wir noch nie zuvor gemacht haben. Im September und Oktober 2020 haben wir also unter diesen verschärften Bedingungen aufgenommen. Gemischt haben wir im April 2021 – stimmt das? (lacht) Das müsste stimmen.
Und dann kam ja noch dazu, dass die Rahmenbedingungen sich extrem verändert haben. Ihr musstet euer geliebtes Studio Amperland verlassen.
Ja! Im April 2020 sind wir aus Amperland ausgezogen. Versuche dir einfach vorzustellen, wie das war. Das war zu der Zeit, als wir noch unsere Einkäufe desinfiziert haben, weil wir noch gar nicht wusste, wie genau Covid sich überträgt. Alle Bandmitglieder hatten all ihre Sachen dort. Wir haben drei Jahre lang dort gelebt, ich habe die Wände bemalt, alles war dekoriert. Es war ein riesiges Haus, nicht unbedingt ein schönes, es fiel schon ganz schön auseinander (lacht). Trotzdem wunderschön! Halt das, was wir uns leisten konnten. Es war so viel Arbeit, und wir waren zu dritt. Es war ja auch nicht möglich, dass jemand von außen dazu kam. Danach hatten wir keinen festen Ort mehr, an dem wir gemeinsam Lärm machen konnten. Wir mussten also Studios mieten. Aber wir haben uns Studios ausgesucht, die sich fast wie Wohnzimmer angefühlt haben (lacht).
Was für eine Veränderung. Nach allem, was ich gelesen habe, war Amperland ein essenzieller Bestandteil deiner Kreativität.
Es hat unserer Kreativität einfach perfekt gedient. Ich meine, was für ein Geschenk, dass ich meinen Lebensunterhalt damit verdienen kann, Songs zu schreiben. Als wir dort eingezogen sind, war ich zum ersten Mal an dem Punkt, dass ich neben der Musik keinen anderen Job machen musste. Und es war das erste Mal, dass ich alleine gelebt habe, College nicht mit eingerechnet. Es gab keine Nachbarn! 600 Kühe waren unsere nächsten Nachbarn. Wir konnten mitten in der Nacht Musik machen und es war niemand da, der sich beschweren konnte. Das war natürlich extrem cool, man konnte jederzeit loslegen, wenn einen die Muse geküsst hat. Freunde von uns haben ihre Alben in Amperland aufgenommen… das war wahrscheinlich das Tollste an der ganzen Sache, dass wir einen Ort hatten, mit dem wir großzügig sein konnten. Wir konnten Leute einladen und ihn mit ihnen teilen.
Und dann ist das Album fertig geworden!
Irgendwie, tatsächlich, ja! Wie sagt man so schön? Not macht erfinderisch. Wir mussten uns an die neuen Begebenheiten anpassen und haben dadurch Vieles so gemacht wie nie zuvor. Das hat unseren Arbeitsprozess aufgerüttelt und auf ganz unterschiedliche Art und Weise neu, aufregend und anders gemacht. Manches ist in meinen Augen dadurch besser geworden als je zuvor.
Es ist verrückt, wie umfassend diese ganze Situation uns beeinflusst, oder? Und manchmal, man traut es sich kaum zu sagen, auch auf positive Weise.
Ja. Ich meine, man kann nicht genug betonen, wieviel Schaden diese Pandemie angerichtet hat, auf der ganze Welt. Ich möchte es nicht beschönigen. Aber, es ist auch fair zu sagen, es gab ein paar verrückte Silberstreifen am Horizont.
Aber mich hat auch sehr beeindruckt und getroffen, was du im Song „Respirate“ ausdrückst. Wieviel Chance die Entwicklungen der letzten Jahre für uns als Gesellschaft bedeuten könnten und wie wir immer wieder über unsere eigenen Füße stolpern und es vermasseln.
Ja. Ich will nicht sagen, dass es in dieser Form vorhersehbar war, aber die Richtung, in die wir uns als Gesellschaft entwickeln, hat sich schon länger angedeutet. Was unsere ökonomische Lage betrifft und den Klimawandel, das haben wir auf lange Hand vorbereitet. Durch die wiederholte, systematische Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen. Durch Firmen, die Profit über menschliches Wohl und die Zukunft unseres Planeten stellen. Es ist Zeit, kritisch zu hinterfragen, was uns wirklich wichtig ist. Ist es uns wichtiger, Multimilliardären dabei zuzusehen, wie sie zum Spaß ins Weltall fliegen, als dass unsere Enkelkinder gesund aufwachsen können? Mir ganz bestimmt nicht.
Was glaubst du, ist persönlich deine größte Qualität in dieser schwierigen Zeit, als Mensch und als Künstler?
(überlegt lang) Weißt du, vorhin hast du mich gefragt wie es mir geht. Ich meinte durchwachsen. Ich glaube, genau das versuche ich mit jedem Song auszudrücken. Damit die Menschen, die dir zuhören, dir vertrauen können, musst du gleichermaßen die guten wie die schlechten Zeiten anerkennen. Du kannst nicht so tun, als wäre alles eitel Sonnenschein, die schlechten Zeiten existieren nicht und Hauptsache ich habe Spaß. Es muss eine Art informierten Optimismus geben, der gleichzeitig deinen Schmerz und deinen täglichen Kampf würdigt. Und der die Frage beantwortet: warum sollten wir bei all dem Leid durchhalten? Von daher könnte ich mir vorstellen, dass meine Aufgabe in dieser Krise ist, auf eine emotional verantwortungsbewusste Art Möglichkeiten zu diskutieren, wie wir einander Trost spenden können. Möglichkeiten zu finden, eine funktionierende Gemeinschaft aufzubauen. Herauszufinden, wie wir den Mut aufbringen können für eine Welt zu kämpfen, in der jeder leben kann. Ich glaube, das könnte meine Rolle in dieser Krise sein. Ich habe sie mir nicht ausgesucht, aber ich glaube, das ist meine Stärke. Und ich hoffe, ich habe die Kraft und die Bescheidenheit zur Seite zu treten, wenn das von mir verlangt wird und denen zuzuhören, die mehr über das wissen, wovon ich rede. Ich möchte etwas kreieren, das gleichzeitig Trost spendet und wachrüttelt.
Ich musste übrigens schmunzeln, dass euer Album „11:11“ heißt. Ich habe vor kurzem erst gehört, dass es die Möglichkeit für einen Neuanfangs bedeutet, wenn man um 11:11 Uhr auf die Uhr sieht.
(lacht) Das ist so interessant! Ich habe inzwischen so vieles gehört. Als Kinder haben wir gesagt: 11:11, wünsch dir was. Auf eine Art steht es für mich für den Wunsch nach einer besseren Welt und damit für das aktive Bestreben, die Welt besser zu machen. Vorhin hat jemand zu mir gesagt, es stünde für das Portal in eine andere Dimension, das sich öffnet. Das was du sagst, gefällt mir auch. Gleichzeitig ist es ein sehr visueller Titel. Er könnte auch für eine Reihe von Bäumen stehen – Pinegrove! Auf eine Art ist es also ein selbstbetiteltes Album. Vielleicht sind es auch die Leute, die Schulter an Schulter im Publikum stehen und miteinander singen. Vielleicht marschieren sie miteinander in Solidarität für eine bessere Welt. Ich habe auch das Bild im Kopf, dass es eine Art Stenocode für Kunst im Allgemeinen ist. Es könnten genauso die Kornfelder sein, über die du im Song „Alaska“ fliegst. Kordstoff, die Wand hinter dir, dein Sweatshirt… die Welt besteht aus Mustern, die sich übereinanderlegen. Ich wollte ein Album machen, das sich mit diesen verschiedenen Schichten auseinandersetzt. Und es bedeutet mir ungemein viel, dass es so viele verschiedene Zugangspunkte gibt, über die die Menschen zu diesem Album finden können.
Foto © Balarama Heller