Es mag vielleicht pure Projektion sein, aber es fühlt sich so an, als wäre jedes Album, das im Moment erscheint, ein Zeichen seiner Zeit. Auch „Blue Weekend“, das neue Werk der Band Wolf Alice, hört und fühlt sich so an, als wäre es so nicht entstanden, wenn wir nicht gerade so leben würden, wie wir es seit mehr als einem Jahr tun. Was Bands und Künstler*innen im Moment vereint ist die Tatsache, dass sie allesamt aus ihrem gewohnten Leben herausgeworfen wurden, aus dem aufreibenden aber geregelten Zyklus von touren, veröffentlichen, touren. Statt ohne Atempause immer so weiterzumachen, hatten Wolf Alice die Möglichkeit, sich in ein Haus nach Somerset zurückzuziehen, Musik zu schreiben, sich selbst und die Mitstreiter*innen neu zu entdecken, als Kolleg*innen genauso wie als Freund*innen, Demos in einer umgebauten Kirche aufzunehmen. Klingt traumhaft? Das Ergebnis legt die Vermutung nah, dass es genau so war.
Wenn der Vorgänger so erfolgreich war wie das 2017 erschienene Album „Visions of a Life“, das unter anderem den Mercury Award gewann und für einen GRAMMY nominiert wurde, könnte der Druck unter dem der Nachfolger entsteht, kaum größer sein. Entsprechend könnte man annehmen, dass der erzwungene Stillstand der Maschinerie seinen Teil dazu beigetragen hat, dass „Blue Weekend“ auf spielerische, nahezu mühelose Weise ein ziemlich großes Album geworden ist, ohne dass es auch nur einen Moment schreit: „Guck mal wie tiefsinnig, vielseitig und gleichzeitig unterhaltsam ich bin!“ Vielleicht liegt es aber auch schlicht und ergreifend daran, dass Wolf Alice eine ziemlich gute Band sind.
Dabei ist „Blue Weekend“ genau das: tiefsinnig, vielseitig und gleichzeitig unterhaltsam. Es macht nur eben kein allzu großes Ding darum. In seiner stilistischen Polarität ist es außerdem extrem zeitgemäß. Das mag jetzt eine subjektive Betrachtungsweise sein, aber die Zeiten, in denen man einen Hund hinterm Ofen hervor locken konnte, in dem man Rocksong an Rocksong nach Schema F auf einem Album aneinander reiht, sind doch vorbei. Vielleicht. Irgendwann. Hoffentlich. Wie sich auf „Blue Weekend“ die ruhigen an die hymnischen an die krachigen Momente reihen, ist auf jeden Fall pure Freude. Es ist in seiner Grundstimmung sphärischer als sein Vorgänger geworden und durch die Zusammenarbeit mit dem Produzenten Markus Dravs (der bereits bei Arcade Fire, Björk und Florence + The Machine Hand angelegt und entsprechend ein Gespür fürs Bombastische hat), voluminöser produziert. Allein der Einstieg mit „The Beach“, das sich nach und nach in Kaskaden von Sound empor schraubt, hat fast schon etwas Psychedelisches. Aber wenn man das alles weg nimmt, dann bleibt ohne jeden Zweifel zurück, was für eine großartige Songwriterin Frontfrau Ellie Rowsell ist, die weiß, wie man das Kunstvolle und das Eingängige miteinander vereint. Viel Glück bei dem Versuch, einen Song wie „How Can I Make It Okay“ wieder aus dem Kopf zu kriegen. Auf der anderen Seite, wer will das schon?
Mindestens genauso wichtig sind aber die Momente, in denen die Gitarren wieder die Herrschaft übernehmen. „Smile“ und „Play The Greatest Hits“ runden in ihrer Punk-Attitüde den Gesamteindruck perfekt ab und erinnern außerdem daran, dass Wolf Alice immer noch Wolf Alice sind. Auf diese Weise ist der Band ein Album gelungen, auf dem sie sich selbst treu bleiben und gleichzeitig mutig zu neuen Ufern aufbrechen kann – und an denen sie unbeschadet ankommt.