Es ist soweit, Chilly Gonzales und ich setzen uns wieder einmal zusammen, und es gibt wie immer viel zu reden. Über sein neues Album „Solo Piano III“ und über das „Gonzervatory“, einen achttägigen Musik- und Performance Workshop, den Chilly Gonzales dieses Jahr erstmals in Paris abgehalten hat und an dem sechs ausgewählte Studenten teilnehmen durften. Auf diese Weise durfte ich erfahren, warum er sich in einer Tradition mit Rudolf Steiner und Joseph Pilates sieht und was für ausgebuffte, neue Klaviertechniken er sich angeeignet hat. Vorhang auf.
Ich erinnere mich, dass du vor einigen Jahren gesagt hast: Ich werde wahrscheinlich kein weiteres Solo Piano Album machen.
Und ich sage es noch einmal: Ich werde wahrscheinlich kein weiteres Solo Piano Album machen (lacht). Es ist das Ende einer Trilogie.
Aber: auf der CD, die ich habe, gibt es am Ende einen Bonustrack, in dem du ein paar Geheimnisse von Solo Piano verrätst. Und dort sagst du: Wartet ab, was auf Solo Piano IV passiert.
Ich bin ein Mann der Widersprüche (lacht). Ich sage, was ich in dem Moment fühle, und manchmal fühlt man nunmal unterschiedliche Dinge.
Wie weißt du, dass die Zeit reif ist für ein weiteres Solo Piano Album?
Es ist ein etwas mysteriöser Prozess und gleichzeitig ein recht pragmatischer. Manchmal plant man aus persönlichen Gründen, man braucht ein Jahr, in dem etwas weniger los ist, weil man vielleicht mit privaten Dingen beschäftigt ist. Manchmal sind es wie gesagt pragmatische Gründe, man möchte vielleicht etwas mehr Geld verdienen, was einem eher gelingt, wenn man mit einer kleineren Gruppe von Leuten auf Tour geht. Diese pragmatischen Überlegung, wie Timing, spielen tatsächlich eine große Rolle. Ich toure zum Beispiel nicht gerne im Sommer, das ist mir zu heiß. Also bringe ich in der Regel im Mai keine Alben raus. Meistens bringe ich meine Alben im September/Oktober oder im Februar/März raus. Das sind diese kleinen Dinge, die von außen niemand sieht. Ende 2016 habe ich zu meinem Team gesagt: ich denke, ich werde mein Album im Herbst 2018 raus bringen. Anfang des Jahres wollte ich das Gonzervatory machen. Um aber den Prozess in Gang zu setzen und ein Album wirklich aufzunehmen, muss man nach einer Art mystischer Antwort suchen. Man fühlt irgendwann, dass man soweit ist. Ich glaube die Kunst ist frei zu sein, den Moment zu erkennen und sich dann langsam einzugrenzen auf ein Datum, an dem man fertig sein will. Dann ist immer noch die Frage: was wenn es nicht so funktioniert, wie man es sich vorstellt? Die Aufnahmen habe ich letzten September gemacht. Aber wir haben weitere Studiozeit im November und im Januar gebucht, für den Fall dass ich das Gefühl habe, sie zu brauchen. Es stellte sich aber heraus, dass dem nicht so ist. Ich hatte das Album nach den zweieinhalb Wochen im September fertig. Es ist so wichtig, dass man sich selbst vertraut. Das versuche ich auch den Teilnehmern des Gonzervatory zu vermitteln. Das sagt sich so einfach, aber ich versuche tatsächlich konkrete, praktische Übungen zu vermitteln, die einen zwingen, sich selbst zu vertrauen. Die dich dazu bringen zu verstehen, dass es besser ist sich selbst zu vertrauen und Risiken einzugehen. Vertraue dir selber, handle aus den richtigen Gründen, das ist ein guter Rat, aber ich habe mich gefragt: wie bringst du jemanden dazu, es tatsächlich zu tun? Wie kreiere ich einen Plan, eine Liste von Aktivitäten, anhand derer man es konkret lernen kann? Den richtigen Zeitpunkt zu erkennen wann man ein Album raus bringt gehört auch dazu. Wie ich sagte, es ist eine seltsame Mischung aus Pragmatismus, Marketing, finanziellen Gründen, persönlichem Geschmack, wie du gerne deine Zeit verbringst und mit wem… das spielt alles eine Rolle. Und am Ende ist es gleichzeitig eine existentielle Frage. Auf der Bühne ist es ähnlich. Ich achte auf der Bühne sehr auf Details, gleichzeitig lasse ich völlig los, damit Dinge einfach passieren. Du siehst, noch mehr Widersprüche.
Als ich dich das letzte Mal getroffen habe, warst du in einer Phase, in der du vermehrt an deinen technischen Fähigkeiten gearbeitet hast, was das Klavierspiel betrifft. Beeinflusst dich das heute in deiner Arbeit?
Das habe ich eine zeitlang für mich gebraucht, in meiner Arbeit am Gonzervatory hat es keine Rolle gespielt. Es geht mir nicht darum technische, sondern psychologische Übungen zu vermitteln. Als ich mit Solo Piano III angefangen habe, habe ich mit dem Notenlesen aufgehört. Ich weiß nicht genau warum, ich denke ich musste in der heißen Phase, zwei bis drei Monate vor den Aufnahmen, mich auf andere Dinge konzentrieren. Außerdem hatte ich körperliche Probleme mit meiner Schulter und meinem Nacken, die typischen Probleme von jemanden, der am Tag mehrere Stunden Klavier spielt und mehrmals im Monat sehr intensive mehrstündige Klavierkonzerte. Also musste ich anfangen, mich eher um mein körperliches Wohlergehen zu kümmern als um mein musikalisches. Das hat meine Arbeit am Gonzervatory auch beeinflusst, da ich mit Pilates angefangen habe und richtig süchtig danach war, auch hat mich die Philosophie und Geschichte des Erfinders, Joseph Pilates, interessiert. Er ist ein Vorbild für mich und für das, was ich mit dem Gonzervatory erreichen möchte. Ich möchte eine Lehrmethode entwickeln, anhand derer man sich selbst als Gonzervatory Lehrer ausbilden kann, sodass man meine Lehre weitergeben kann, ohne dass ich zwingend anwesend sein muss. Das wird mich die nächsten fünf bis zehn Jahre beschäftigen. Mein Ziel ist, dass irgendwann jemand in Russland sagen kann: ich möchte jetzt ein paar Stunden bei einem Gonzervatory Lehrer nehmen, so wie ich mir in Berlin einen Pilates Lehrer suche, wenn ich hier bin. Das alles hat für mich das Notenlesen abgelöst. Aber ich suche mir immer etwas, wovon ich besessen bin und wofür ich mich engagiere, das hilft mir, Routine und Disziplin zu finden und bringt das Beste in mir zum Vorschein.
Du hast offensichtlich eine große Leidenschaft für das Unterrichten. Was lernst du dadurch über dich selbst als Künstler?
Es fordert auch meine Komfortzone heraus. Ich sehe mich selber als musikalischer Humanist. Ich stelle lieber heraus, was die verschiedenen musikalischen Stile miteinander verbindet als was sie voneinander unterscheidet. Ich vertrete sozusagen den Antinationalismus musikalischer Stile. Gleichzeitig habe ich selber einen ziemlich versnobten Musikgeschmack. Es gibt vieles, das ich nicht mag. Ich muss also versuchen, meinen eigenen Geschmack beiseite zu stellen. Ein bisschen wie Rudolf Steiner. Dem ging es mehr darum, die Umgebung zu kontrollieren in der Schüler sich bewegen und weniger darum was sie dort lernen. Innerhalb dieser Umgebung stellen Schüler und Lehrer eine Verbindung zueinander her und entscheiden gemeinsam, was sie lernen wollen. Das ist für mich mehr Vorbild als jemand der sagt: spiel jetzt diesen Akkord, du solltest deinem Song eine dritte Strophe hinzufügen. Dafür muss ich mich fragen: wo endet mein persönlicher Geschmack und wo beginnt mein musikalischer Humanismus? Es war schon eine Herausforderung, die Studenten auszusuchen, deshalb hatte ich so viel Hilfe wie möglich. Ich habe Gastlehrer dazu geholt, weil ich dachte, sie können nicht nur meine Ansichten hören, die sind zum Teil einfach zu speziell. Sie müssen hören, was Peaches und Jarvis Cocker ihnen zu erzählen haben, manches davon Dinge, die mir komplett widersprechen. Man braucht mindestens zwei verschiedene Ansichten, damit man sich für eine entscheiden kann. Aber wichtig ist mir, dass ich die Umgebung kontrolliere, dass ich bestimme, welche Leute ich zusammen bringe. Es ist erst ein Anfang, aber ich glaube dass ich da etwas Besonderem auf der Spur bin, und ich möchte herausfinden was es ist. Deshalb werde ich damit weitermachen. Die ganze Motivation dafür kam vom Pilates! Jeder weiß was Pilates ist, und egal in welcher Stadt ich bin, ich finde dort immer einen Pilates Lehrer. Eine Bewegung, die ein Mann allein begonnen hat. So etwas fasziniert mich.
Lass uns über Solo Piano III sprechen. Ich habe mich gefragt, ob du konkret etwas an der Produktion der Stücke geändert hast. Irgendwie klingen sie intimer, als würde man mit dir in einem Raum sitzen.
Ein technischer Aspekt hat sich geändert, aber ich würde sagen, dass er eng mit einem künstlerischen, ästhetischen Aspekt verbunden ist. Es gibt einen Dämpfer, ursprünglich aus Filz, den ich beim Klavierspielen benutze, der sich zwischen den Klavierhämmern und den Saiten befindet. Auf deutsch nennt man ihn Moderator. Er macht den Klang sanfter. Auf Solo Piano I und II habe ich ihn benutzt, aber bei Solo Piano II habe ich damit angefangen, dass ich den Klang immer weniger sanft haben wollte. Ich wollte den Moderator aber nicht komplett raus nehmen, also habe ich nach spezielleren Materialien gesucht, immer dünner und dünner, damit der Klang weniger gedämpft ist. Gleichzeitig musste er aber auch noch zu Solo Piano I und II passen. Ich wollte die Melodien mehr zum Singen bringen und stärkere innere Dynamik kreieren. Mein Klaviertechniker, Carsten Schulz aus Berlin, hat ein sehr spezielles Material entdeckt. Es ist eigentlich nicht fürs Klavier gedacht, aber ich werde nicht sagen was es ist, sonst wollen andere Pianisten es auch haben. Ich bin der einzige, der damit arbeitet. Es ist ein poröses Material, das heißt, wenn ich die Tasten hart anschlage, werden die Fasern zur Seite gedrückt und es klingt fast wie ein Anschlag ohne Dämpfung, es ist nur ein winziger Unterschied. Aber wenn ich weich anschlage, dann bleibt die volle Struktur des Materials erhalten und der Klang ist sehr gedämpft. Das bedeutet, ich kann mit der linken Hand eine gedämpfte Begleitung spielen und mit der rechten die Melodie voll zum Klingen bringen. So hat man fast das Gefühl, zwei Klaviere zu hören. Oder dass drei Hände spielen, wie auf dem Albumcover. Um das voll zum Ausdruck zu bringen, mussten die Mikrofone weiter weg aufgestellt sein. Dadurch hört man etwas mehr vom Raum. Der Effekt kommt aber ursprünglich durch meine veränderte Spieltechnik. Ich habe auf diesem Album auch orchestraler komponiert als früher. Innerhalb des Klaviers gibt es diesmal mehrere Ebenen. Solo Piano 1 war, im positiven Sinne, eindimensionaler. Auf Solo Piano II habe ich einen etwas cleaneren Popsound angestrebt. Diesmal ist alles offener, es gibt viel mehr Farben und Dynamiken.
Einer meiner Lieblingssongs auf Solo Piano III ist „October 3rd“. Den hast du dir selbst gewidmet.
Ja. Wie du weißt, rede ich nicht gern über mein Privatleben. Ich teile gerne intime Fantasien, und in meinen Rap Texten gibt es immer mal wieder persönliche Referenzen, aber mehr in dem Sinne, dass ich durch meine Träume und Fantasien versuche, etwas über mich selbst zu erfahren. Wirklich private Dinge erzähle ich in der Regel nicht. Dieser Song handelt für mich von einem persönlichen Moment, von etwas, das am 3. Oktober passiert ist. Es war ein lebensverändernder Moment, aber ich wollte nicht darüber sprechen. Ich wollte dass die Leute wissen, dass es ein für mich persönlich wichtiger Song ist. Also habe ich mich entschieden, ihm einen etwas banal deskriptiven Titel zu geben, der sich von den anderen Songs abhebt. Die anderen Titel sind eher verspielt. Deshalb habe ich ihn auch mir selbst gewidmet, um zu sagen: dieser Song ist mir sehr wichtig, vielleicht der persönlichste von allen. Ich kann euch nicht sagen warum, aber ihr sollt wissen, dass er das emotionale Zentrum des Albums ist.
Ist es nicht schön, dass ich ausgerechnet an ihm hängen geblieben bin? Es hat funktioniert!
Das ist gut (lächelt).
Interview: Gabi Rudolph
Fotos: Alexandre Isard