Es mag Anfang April vielleicht noch etwas früh für derart markige Aussagen sein, aber ich denke, dass man sich in diesem Fall ruhig mal aus dem Fenster lehnen darf: „The Florida Project“ hat das Zeug dazu der stärkste Film zu sein, den man dieses Jahr im Kino zu sehen bekommt. Es ist nahezu schockierend, wie sehr Regisseur Sean Baker hier alles richtig macht. Vom Plot über die Besetzung bis hin zur Inszenierung – da kann man auch mal im ersten Absatz zu diesem Fazit zu kommen, so stimmig ist das alles. Ich stelle es euch auch frei, ob ihr an dieser Stelle weiter lesen wollt oder lieber direkt ins Kino rennt.
„The Florida Project“ spielt vor den Toren Disneyworlds, er explodiert nur so vor satten Farben in Bonbontönen, jede Menge pink, gelb, lila und himmelblau. Aber die Szenerie um die es hier geht könnte nicht weiter entfernt sein von der heilen Welt eines Disneyfilms. In den Hotels rund um den Vergnügungspark, die auf so klangvolle Namen wie „Magic Castle“ und „Future Island“ hören, existiert eine Parallelgesellschaft. Hauptsächlich weiße Amerikaner, die sich mit Mindestlohnjobs über Wasser halten und deren Lebensstil sie nicht qualifiziert für einen festen Wohnsitz. Stattdessen leben sie in den Zimmern der Hotels, deren dauerhafte Vermietung eigentlich nicht gestattet ist. Hotelmanager Bobby (Willem Dafoe) muss deshalb regelmäßig dafür sorgen, dass keine Fahrräder auf den Gängen entlang der Zimmertüren angeschlossen sind und seine Dauergäste einmal im Monat in ein Nachbarmotel ausquartieren, um sie dann aufs Neue wieder einzuchecken. Aber anstatt ein vordergründiges Sozialdrama zu erzählen, wählt Sean Baker die Perspektive der dort lebenden Kinder, allen voran die sechsjährige Moonee (Brooklynn Prince), die mit ihrer Mutter Halley (Bria Vinaite) in einem der Zimmer des Magic Castle lebt. Es sind Ferien, es ist heiß, und es gibt eine Menge was man tun kann – die Gegend erkunden, Eis schnorren und vor allem den gutmütigen Bobby in den Wahnsinn treiben. Moonee ist ein echter Satansbraten, immer vorne mit dabei, wenn es darum geht Unfug zu stiften. Mit ihrer Mutter verkauft sie billige Parfums aus Plastiktüten an Touristen. Aus Moonees Sicht ist das alles ein großer Spaß. In ihrem Universum spielt es keine große Rolle, dass ihre Mutter vor kurzem ihren Job verloren hat und sich mit ihrer besten Freund zerstritten hat. Sean Baker nimmt uns kompromisslos mit in Moonees Universum, indem jeder Tag erst einmal ein neues Abenteuer ist. Es fehlt augenscheinlich an nichts – selbst ein Feuerwerk für die beste Freundin zum Geburtstag gibt es. Dass dieses hinter den Toren Disneyworlds stattfindet ist den Kindern reichlich egal, von der Wiese vor dem Park aus kann man es auch ganz wunderbar sehen. Dass das alles so funktioniert liegt besonders auch an der Figur der Halley. Sie ist keine konventionell gute Mutter. Sie ist ähnlich laut, frech und vorlaut wie ihre Tochter, lässt aber auf diese nichts kommen. Wer sich mit Moonee anlegt, kriegt es mit Halley zu tun. Und woher plötzlich regelmäßig das Geld für die nächste Wochenmiete kommt, muss Moonee auch nicht wissen.
Die bittere Realität lässt Sean Baker immer wieder an der Tür kratzen. Wenn Bobby zum Beispiel einen alten Mann vom Gelände des Hotels vertreiben muss, der offensichtlich ein ungutes Interesse an den Kindern hat. Oder wenn dem Zuschauer langsam dämmert, warum Moonee jeden Abend um die gleiche Zeit bei lauter Musik in die Badewanne steigen muss. Es wird hier nichts verherrlicht, nichts außen vor gelassen. Und trotzdem zeigt „The Florida Project“, dass das Leben immer mehr als eine Perspektive hat. Dass eine zufriedene Kindheit nicht nur mit den äußeren Umständen, sondern vor allem mit dem Gefühl der Gebundenheit zu tun hat. Es gibt eine sehr starke Bindung zwischen Halley und Moonee, zwei gestrandeten Persönlichkeiten, die weit davon entfernt sind, alles richtig zu machen, sich dabei aber gegenseitig nicht aus dem Blick verlieren.
Es ist schier unglaublich, wie souverän Sean Baker sein ungewöhnliches Ensemble führt. Die Kinder agieren hier mit der gleichen Sicherheit wie Hollywoodstar Willem Dafoe. Und der absolute Clou: Mit Bria Vinaite in der Rolle der Halley hat Baker sich obendrein noch eine schauspielerische Laiin ins Boot geholt, die sich als größerer Glücksgriff kaum entpuppen konnte. Nach diversen Castings entdeckte er Bria Vinaite durch ihr Instagram Profil, mit ihren großflächigen Tätowierungen, Piercings und bunten Haaren erscheint sie auf Anhieb natürlich als die perfekte Besetzung. Aber die Leidenschaft und Tiefe, die sie aus ihrer Rolle schöpft, gepaart mit einer unglaublichen darstellerischen Sicherheit, das ist schon wirklich außergewöhnlich. Es spricht sehr für Sean Baker, dass er dies in der bunten, verrückten Frau hat schlummern sehen. Und am Ende entsteht aus dieser Riege von Talenten unterschiedlichsten Alters und Background unter seiner Regie ein homogenes Ensemble. Man möchte einfach nur den Hut vor ihm ziehen.
Auch dass er sich nach seinem komplett mit dem iPhone gedrehten Vorgängerfilm „Tangerine L.A.“ diesmal für 35mm, satte Farben und Cinemascope entschieden hat, ist absolut die richtige Entscheidung. Die Hochglanzbilder bilden den perfekten Gegenpol zur Erzählwelt von „The Florida Project“. Es liegt so viel erzählerische Kraft in diesem Film, aber auch so viel Herz, so viel Verständnis und Einfühlungsvermögen für die hier portraitierten Figuren, von denen keine in ihrer Bedeutung zu kurz kommt. Dass „The Florida Project“ bis auf die Nominierung für Willem Dafoe als bester Nebendarsteller bei den Oscars derart übergangen wurde, ist nahezu skandalös.
Ich werde weiterhin kräftig ins Kino gehen, und ihr könnt euch gerne Ende des Jahres noch einmal mit mir austauschen. Ich bin mir aber sehr sicher, dass ich auch dann weiterhin zu meiner Meinung stehen werde: dass „The Florida Project“ wenn nicht der, dann zumindest einer der besten Filme sein wird, die ihr dieses Jahr zu sehen kriegt. Und an alle, die tatsächlich bis hierhin weiter gelesen haben: jetzt aber ab ins Kino, bitte.
Gesehen von: Gabi Rudolph
Fotos: PROKINO Filmverleih