Ein Stimmungsbild
Nachdem sich Steve McQueen in seinem 2008er Portrait des in den Hungerstreik tretenden IRA-Kämpfers Bobby Sands auf die Enge eines nordirischen Hochsicherheitsgefängnisses einließ, nimmt er sich nun die Weite der über 8 Millionen Einwohner Stadt New York vor. Wolkenkratzer, Verkehrschaos und bunteste Reklametafeln schreien den Willkommensgruß. Doch in „Shame“ läutet das stille Bild eines Mittdreißigers in ultramariner Bettwäsche liegend den 101-Minuten Film ein. Seine Augen starren aus dunklen Höhlen vorbei an dem Zuschauer, mitten hinein in die Leere.
„In ‚Hunger‘ ging es um einen Mann ohne Freiheit, der seinen Körper als Werkzeug verwendete und mit diesem Akt Freiheit erlangte. ‚Shame‘ folgt einem Menschen, der all die Freiheiten des Lebens im Westen genießt und sich durch seine vermeintliche sexuelle Freiheit sein eigenes Gefängnis erschafft.“ (Steve McQueen)
Wenn der gebürtige Londoner McQueen seinen sexsüchtigen Protagonisten Brandon in seiner gewohnten Umgebung zeigt, dann macht er das mit viel Ruhe. Die spartanisch möblierte Wohnung mit den kahlen Wänden korrespondiert mit dem wiederkehrenden Atemgeräuschen – ob lustvoll, sehnsuchtsvoll oder gequält. Es ist die Stadt, die niemals schläft. Doch ohne die Touristen im Bild.
Der 34-jährige Michael Fassbender übernimmt dabei die Rolle im Adamskostüm. Als erfolgreicher Manager hat er sich mit seiner Sexsucht arrangiert. So konsumiert er ohne jegliche Befremdlichkeit Pornografie, begibt sie in schnelle Affären und masturbiert regelmäßig unter der heimischen Dusche wie auch auf der Büro-Toilette. Freunde hat er keine. Denn Nähe bereitet ihm Unbehagen und in der Anonymität des Big Apple fällt dies zunächst auch nicht weiter auf. Nur tritt plötzlich seine exzentrische Schwester Sissy (Carey Mulligan, „Drive“) in sein Leben, überhäuft ihn mit ihren Problemen, will seinen Zuspruch. Aber Brandon sieht in ihr nur die verdrängte Vergangenheit. Auch wenn der Film nicht viel von den Umständen erläutert: beide sind gezeichnete Kinder. Sissy ist die Explodierende, Brandon der Implodierende. Und die Fassade droht zu fallen.
„Ich bin an Menschen interessiert und will wissen, warum sie Dinge tun, die sie tun. Jeder hat eine Vergangenheit. Und wenn man eine Vergangenheit hat, dann sind die Dinge, die man tut, davon beeinflusst.“ (Steve McQueen)
Um die Ambivalenz der Hauptfigur pointiert darstellbar zu machen, arbeitete McQueen wie schon bei seinem Spielfilmdebut „Hunger“ mit dem Deutsch-Iren Michael Fassbender zusammen. Dieser sei für ihn weniger ein Schauspieler als eine wahrhaftige Künstlernatur. In einem fünfwöchigen Dreh, wo manch eine Szene 23 Seiten umfasste und an einem Tag im Kasten sein sollte, ist solch ein gegenseitiger Respekt unerlässlich. Fassbender, der bereits in „Twelve Years A Slave“ mit dem Regisseur wiedervereint sein wird, hat das Gefühl in Steve McQueen seinen Scorsese gefunden zu haben. Die Mischung ist perfekt.
Die beschlagene Scheibe der Dusche geht über in ein verschwommenes Frauenportrait in der U-Bahn. Der Schnitt sitzt. Eine extreme Farbpalette umschmeichelt Szene für Szene. Kein Detail wird dem Zufall überlassen, lange Einstellungen dominieren das Gesamtbild und saugen den Betrachter in das gefährliche Gefängnis ein. Als Sissy in einem Club „New York, New York“ singt, folgt die Kamera fünf Minuten dem Geschehen und schließlich entpuppen sich die Nahaufnahmen auf Brandon und Sissy als eine Schlüsselszene.
„These vagabond shoes are melting away.“
Der Traum der sich nur in Bildern verwirklichen lässt.
Die schönen Gemälde wirken umso verstörender bei der gezeigten Thematik. Nichtdestotrotz gab es für Fassbenders einsame Nacktheit oder McQueens gut recherchiertes Draufgängertum keine einzige Oscar-Nominierung. Dem Regisseur zufolge liegt dies schlichtweg an der Angst der Amerikaner vor dem lauten Aussprechen des Wortes Sex. Doch verstärkt die Gewalttätigkeit von „Shame“ nicht exakt dieses Gefühl? Szenenweise glaubt man sich in einem Porno mit einer geglückten Musikauswahl zu wissen. Steve McQueen will nicht die Stadt sehen, sondern ausschließlich näher und näher in seine Figuren eindringen. Das ist die Kunst unserer Generation. Und sie ist gelungen.
Filmstart: 01. März 2012, Berlin: 23.02.2012
Gesehen von: Hella Wittenberg