Film der Woche: „Dorfpunks“ von Lars Jessen

„Dorfpunks“ schildert einen Sommer im Leben einer Jungsclique aus der Holsteinischen Schweiz. Lars Jessens liebevoll beobachtetes Zeit- und Jugendportrait erscheint heute auf DVD und sichert sich nicht nur deshalb bei uns den Titel „Film der Woche“.

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Ich habe leider keine Punkvergangenheit. Als die Punkbewegung sich Ende der Siebziger auf ihrem Höhepunkt befand, bin ich gerade in den Kindergarten gekommen. Später habe mit Hilfe von Schottenröckchen, Nietenarmbändern und Netzstrümpfen ein paar zaghafte Versuche unternommen, den Geist des Punks wieder aufleben zu lassen, aber ich konnte mir nicht helfen. Ich sah irgendwie immer verkleidet aus. Im Gymnasium hatte ich sogar einen guten Punkkumpel, Hermann aus der Bank neben mir, der eine Sicherheitsnadel im Ohr trug und so richtig „No-Future-Mäßig“ das Abi vergeigte, weil er sowieso Brauer werden wollte.

Als ich auf der diesjährigen Berlinale erstmals „Dorfpunks“ von Lars Jessen sah, musste ich dementsprechend schmunzeln. Anerkennend, wohlgemerkt. Hauptdarsteller Cecil von Renner ist Jahrgang 1990. Der war noch nicht einmal geboren, als der Punk seine Anfänge nahm! Der Rest der jugendlichen Hauptdarsteller ist altersmäßig in ähnlichen Regionen angesiedelt. Warum zum Teufel sehen diese Jungs so überhaupt nicht verkleidet aus?!

1984. Mit einigen Jahren Verspätung ist der Punk auch in Schmalenstedt, einer verschlafenen Kleinstadt an der Ostsee angekommen. Bei Malte (Cecil von Renner) und seinen Freunden schlägt die Bewegung aus London ein wie eine Bombe. Malte, der gerade eher lustlos eine Töpferlehre absolviert, wird zu Roddy Dangerblood und gründet mit seinen Punkkumpels Fliegevogel (Ole Fischer), Sid (Pit Bukowski), Flo (Daniel Michel), Piekmeier (Laszlo Horwitz) und Günni (Samuel Auer) eine Band. Geprobt wird in Maltes mit Zeitungspapier tapeziertem Jugendzimmer, was sich schwieriger gestaltet als man anfangs annimmt. Der Bandname wechselt quasi täglich, aber bald hat man sich stolz den ersten Auftritt im örtlichen Soldatenheim organisiert, der zwar in die Hose geht, sich hinterher aber erfolgreich schön getrunken wird.Dorfpunks_6

Überhaupt ist es nicht so leicht, in Schmalenstedt eine Revolte anzuzetteln. Die einzigen, die sich für Roddys Punkerdasein interessieren sind die örtlichen Rechtsradikalen, die ihn regelmäßig zusammenschlagen. Seine Eltern, sonst um Verständnis und Liberalität bemüht, beobachten die Entwicklungen mit zunehmender Besorgnis. Ein Flirt mit der hübschen Maria (Meri Husagic) wird unfreiwillig beendet, als die Clique bei einer Party Marias elterliches Wohnzimmer verwüstet. Als der Herbst vor der Tür steht, zeichnet sich ab, dass die Wege der Freunde sich demnächst trennen werden. Und Malte entdeckt, fernab vom Punk, unerwartet seinen eigenen Weg, dort wo er ihn niemals vermutet hätte.

„Dorfpunks“ ist die Verfilmung des gleichnamigen, autobiografischen Romans von Multitalent Rocko Schamoni und war zur diesjährigen Berlinale in der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ zu sehen. Die Kritiken fielen damals unterschiedlich aus, vielen war die Verfilmung zu zahm, zu glatt gebügelt.  Ich persönlich mochte Dorfpunks vor allem wegen der tollen Jungtalente, die Regisseur Lars Jessen gemeinsam mit Casting Director Gitta Jauch in mühevoller Arbeit zum Teil aus dem Nichts entdeckte. Außer Pit Bukowski und Laszlo Horwitz hat keines der Cliquenmitglieder zuvor vor einer Kamera gestanden, musikalische Vorerfahrung brachten hingegen alle mit. Allerdings wurden bei der Besetzung der Band die erlernten Instrumente untereinander vertauscht, um den unbeholfenen Sound der Punkband so authentisch wie möglich hinzubekommen.

Dorfpunks_3Zur Berlinale Premiere erzählte Lars Jessen, dass er genaue Vorstellungen von dem hatte, was er von seinen Darstellern sehen wollte. Die Frage, ob es bei der Entwicklung der Rollen viel Raum für Improvisation gegeben habe, verneinte er und erntete Lacher mit der Begründung, die Sprache der Jungs sei dabei zu sehr in den Hip-Hop-Jargon der heutigen Jugend abgeglitten. Die strenge Führung hat den Darstellern offensichtlich gut getan, ein laienhafter Ton ist in keinem Moment des Films zu hören. Das seinige dazu getan hat sicherlich Schauspielcoach Peter Jordan, der bereits David Kross für Detlev Bucks „Knallhart“ gecoacht hat. Auch sind alle fünf große Sympathieträger. Cecil von Renner ist schlichtweg bezaubernd, und Ole Fischer verliert trotz Drogenproblemen und falschen Freunden den liebenswerten Kern seines Fliegevogel nicht aus den Augen.

Der Film hat sicherlich nicht den Biss der Romanvorlage, macht aber viel Spaß. Rocko Schamoni hat eng an der Entstehung des Films mitgearbeitet, wodurch über die Geschichte des Romans hinaus auch persönliche Anekdoten, die sich einst so zugetragen haben, ihren Weg ins Drehbuch gefunden haben. Alles in allem ist „Dorfpunks“, auch dank Ausstattung und Kostüm, [aartikel]B002ODHHBQ:right[/aartikel]sowohl ein liebevoll gestaltetes Zeitdokument, als auch ein Jugendfilm mit viel Identifikationspotential. Der Ausbruch aus Konventionen, der Verlust von Freundschaften auf dem Weg zum Erwachsenwerden und die Suche nach der eigenen Identität im engen Umfeld einer Kleinstadt beschäftigen die Jugend von heute gleichermaßen wie die „Dorfpunks“ von 1984.

Bei mir sind inzwischen sämtliche ehemaligen Piercinglöcher zugewachsen. Das wird definitiv nichts mehr mit dem Punk und mir. Ich leg mich lieber auf die Couch und seh mir nochmal den Film an. Das kann ich auch tun, wenn ich morgens früh raus muss.

Fotos © www.dorfpunks-der-film.de