Als eine Art Buch mit verschiedenen Kapiteln, die aufeinander aufbauen aber keine lineare Themenführung haben, beschreibt Sinead O’Brien ihr Debütalbum „Time Bend and Break the Bower“, das im Juni 2022 erschienen ist. Künstlerisch verwebt die Platte die Poesie von Künstlerin und Modedesignerin Sinead O’Brien mit dem Postpunk-Sound ihrer Bandmitglieder Oscar Robertson an den Drums und Julian Hanson an der Gitarre. So ist die in London lebende Irin keine Singer-Songwriterin im klassischen Sinne – ihr Werk baut vor allem auf die von ihr geschriebenen Worte auf, die sie nicht etwa singt, sondern nach Spoken-Word-Manier spricht. Manchmal mischen sich Anklänge von Gesang mit Sprechen, wie zum Beispiel in „End of Days“, was eine Spannung kreiert, die den Zuhörer fesselt.
Sinead O’Brien – Das Gegenteil von Harmonie und Unverständlichkeit zulassen
Die Musikerin experimentiert mit Worten und Sound – live und in ihren Musikvideos auch mit Bewegung – um ihren Gedichten eine weitere Dimension zu verleihen und erweiterte Bedeutung zu verschaffen. Für die musikalische Untermalung sind ihre Bandkollegen verantwortlich, die in ihrem Postpunk-Ansatz auch Psychedelic-Rock-Einflüsse und Dark Wave-Einschläge kombinieren. Kennengelernt habe die Musikerin die beiden auf sehr unkonventionelle Art: Julian Hanson lernte O’Brien in einem Club auf der Tanzfläche kennen. Schnell hätte sie gemerkt, dass sie mit ihm befreundet sein wolle, die Kompatibilität der beiden beim Tanzen hätte diesen Wunsch verstärkt. Da er ihr zu Anfang nicht sagte, dass er Gitarrist sei und auch sonst wenig von sich erzählte, wurden sie zunächst Freunde, bevor sie zu Bandkollegen wurden. Auch Oscar Robertson lernte sie zwanglos kennen. Während eines Mittagessens erklärte sie einer Freundin, dass sie auf der Suche nach einem Schlagzeuger sei. Durch Zufall hätte jemand ihr Gespräch mitgehört und ihr die Nummer eines befreundeten Drummers gegeben, mit dem sie sich dann auch zu einer Probe traf. Schon von Anfang an hätte sie ein gutes Gefühl gehabt.
Flughafenansagen mit Stil
Sinead O’Briens Stimme wandelt sich mit den Worten, die sie präsentiert. Die einzig erkennbare Konstante: eine scharfe Klarheit sowohl in der Aussprache der Lyrics als auch in der Zielstrebigkeit, mit der sie ihre Worte vorträgt. Mal klingt die Stimme der Irin dabei fordernd und bestimmt, in überlegen-triumphierendem Tonfall, mal leicht bedrohlich – sie kann aber zwischenzeitlich auch überraschend sanft und ruhig werden. Der kalte Hall, der ihrer Stimme nachgeht und manchmal an Durchsagen am Flughafen erinnert, verstärkt ihre Worte und rundet das Hörerlebnis passend ab. Und nicht nur die Musik in sich ist stimmig, auch das Auftreten der Musikerin mit ihrer Band gibt ein passendes Bild ab. Auf dem Cover von „Time Bend and Break the Bower“ sind alle drei Bandmitglieder mondän in schwarzen Ledermänteln und dunklen Sonnenbrillen zu sehen – ohne dabei lächerlich zu wirken. Im Gegenteil strahlt das Trio eine zeitlose Eleganz und Coolness aus, die nicht an Trends geknüpft ist und trotzdem modisch wirkt.
Kreativität war für Sinead O’Brien der einzige Weg
Das mag mit dem Fashion-Background Sinead O’Briens zusammenhängen. Bevor sie sich größtenteils ihrer Musik widmete, war sie als Modedesignerin unter anderem für John Galliano und Vivienne Westwood tätig. Trotz breit gefächerter Interessensgebiete, die beispielsweise Psychologie, (Tier-)Medizin und Literatur umfassen, entschied sie sich als junge Frau für den kreativen Weg. Eine Hilfestellung ihrer Mutter ließ ihr klar werden, dass sie sich ein Leben ohne Kreativität nicht vorstellen könne. So besuchte sie eine Kunsthochschule und begeisterte sich dort für Fotografie, Film und klassische Musik. Ihr Händchen in den ersten beiden Bereichen beweist sie nun in Musikvideos und Fotoshootings.
Schreiben gehört zu ihrer täglichen Routine
Doch auch schon während ihrer Zeit als Designerin ließ sie sich das Schreiben nicht nehmen. Auf dem Weg zur Arbeit im Bus, in der Mittagspause, an den Wochenenden – wann immer sich die Gelegenheit bot, griff sie zu Stift und Papier, um ihre Gedanken niederzuschreiben. So erzählte es die Newcomerin in einem Interview. Damit verfüge sie über den nicht zu leugnenden Vorteil, gelernt zu haben, ohne Privatsphäre Texte verfassen zu können. Während viele Singer-Songwriter davon berichten, für ihren Schreibprozess absolute Ruhe zu bevorzugen, geht es Sinead O’Brien anders. Musik höre sie währenddessen trotzdem nicht. Mittlerweile sei das Schreiben der wichtigste Bestandteil ihrer täglichen Routine. Jeden Morgen setze sie sich an den Schreibtisch, um eines ihrer zahlreichen Notizhefte mit Worten zu füllen. Seien es klassische Tagebucheinträge, Geschichten, Gedichte oder zusammenhangslose Gedanken. Durch dieses Wissen erscheint einem die vielleicht auf den ersten Blick etwas streng wirkende Sinead O’Brien deutlich nahbarer.
Sieht man sich Interviews der Künstlerin an, fällt einem außerdem der Kontrast zwischen ihrem bestimmten Auftreten in ihrer Musik und der nahbaren, nachdenklichen Art in Gesprächen auf. Keinesfalls einschüchternd, sondern vielmehr beruhigt, analytisch und inspiriert tritt sie in Video-Interviews auf und gibt ihrem Gesamtkunstwerk damit eine weitere Facette. Im Gespräch mit „NME“ erklärte sie, ihre Musik-Helden seien Nick Cave, The Velvet Underground und Mark E. Smith. Dies sei dem Umstand geschuldet, dass alle drei ein immersives Storytelling verbinde, das sie selbst auch anstrebe. Dementsprechend lassen sich dann auch Parallelen zu Nick Cave erkennen, nicht nur im präsenten, mystischen Auftreten, sondern auch in der Art und Weise, wie beide ihre Musik zu einem umfassenden Erlebnis machen. Trotzdem steht Sinead O’Brien mit ihrem Werk für sich. Vergleiche mit anderen würden sich schwierig gestalten und die Eigenheit ihres Stils untergraben, auch wenn sich zwischenzeitlich beispielsweise im Song „The Rarest Kind“ durchaus Flashbacks zu The Cure aufdrängen könnten.
„Time Bend and Break the Bower“: Interaktion fordernde Komplexität
Durch die unterschiedlichen Stile, die Sinead O’Brien und ihre Band in ihrer Musik vereinen, wird schnell klar, dass sie sich auf kein Genre festlegen möchten. Viel wichtiger sei es der Musikerin Komplexität zu bewahren. Ihr Album solle nicht einfach zu erklären sein, die Tracks keiner übergeordneten Handlung folgen und trotzdem in sich geschlossen Sinn ergeben. Ob das der Fall ist, lässt sich gar nicht so einfach ausmachen. Die Texte aus „Time Bend and Break the Bower“ sind für den Zuhörer oder Leser nicht (einfach) zu entschlüsseln. Viel eher geht von der Gesamtkomposition der Worte in einem jeweiligen Songtext eine Atmosphäre, ein Gefühl aus, das in einer Art des Verstehens münden oder einfach nur zu Verwirrung führen kann. Bewusst sei an ihren Lyrics nichts verschlüsselt, äußerte die O’Brien einst. Die Art und Weise wie wir ihre Songtexte präsentiert bekämen, spiegle einfach ihre Art des Schreibens. Nach der einen großen Botschaft, die sie vermitteln sollen, könne man dabei lange suchen. Diese gebe es nicht.
Gerade das sei etwas, was sie an ihrer Musik möge: Um ein gewisses Verständnis dafür zu bekommen, sei eine beidseitige Interaktion notwendig. Die Künstlerin gibt den Anreiz mit ihrer Musik, die Zuhörer beschäftigen sich mit den Texten, Arrangements und den Personen hinter der Kunst. Hätten die Zuhörer einmal einen Zugang zu einem Werk gefunden, könnten sie für gewöhnlich auch die kommenden verfolgen und nachvollziehen. Genauso arbeite Sinead O’Brien selbst auch. Sie konsumiere und interpretiere die Werke von Literaten, Fotografen und Filmemachern und ließe sich unter anderem dadurch zu eigenen Gedichten inspirieren. Nachgesagt werden ihr unter anderem Anspielungen auf die Fotografen Helmut Newton und Henri Cartier-Bresson, die modernen Performancekünstler Michael Clark und Michael Laub sowie auf Virginia Woolf, Albert Camus und Samuel Beckett.
Coming-of-Age ohne große Nostalgieanflüge
Trotzdem beinhalten ihre Songs auch persönliche, autobiografische Momente. In ihrem mittlerweile vielleicht bekanntesten, weil auch plakativsten Song, „Like Culture“, erinnert sich die Musikerin an ihre Jugend. Sie sei auf Konzerten gewesen, auf die sie nie hätte gehen dürfen, hätte Partys im Wald besucht und sei vor der Polizei weggelaufen, berichtete sie. Diese Erinnerungen ans Teenagersein inspirierten sie schon vor vielen Jahren zu einem Gedicht namens „Limerick, slightly with you“, das den Namen ihres Geburtsorts im Südwesten Irlands enthält.
Es sei eine Coming-of-Age-Geschichte, die sich mit den Spannungen, dem Unbehagen der Jugend beschäftige. Obwohl sie auch schon im Jugendalter geschrieben hätte, stamme dieses Gedicht aus einer späteren Zeit und lebe von der Rückschau. Den damals entstandenen Text überführte sie dann weiter in die Lyrics von „Like Culture“. Damit wollte sie kein nostalgisches Stück schaffen, sondern eine düstere Atmosphäre, die Vergangenheit und Gegenwart zusammenbrächte. Aus diesem Grund habe Sinead O’Brien „Szenen und Mantras“ aus ihrer Gegenwart eingeflochten, beispielsweise die eindringliche Aufforderung „Dance“, die sich wie ein Leitmotiv durch den Song zieht. „The room has absorbed us/Eaten our bodies and consumed our minds/Fallen to our knees/Lost the need to need/Everything normal/Everything becomes normal” heißt es in dem Track. Das Nachtleben und die Tanzfläche seien in diesem Fall „die rettende Antwort auf den panischen Ruf der Jugend“, und hätten damit einen Einfluss auf „den Einzelnen, die Gruppe und die Kultur“, teilte die Musikerin zur Veröffentlichung des Titels mit. Weiter erklärte sie: „Man spürt den Drang Emotionen zu leben, das Bedürfnis, Verbindung und Kontakt zu suchen. Zusammenzuwachsen, wie eine Kultur“.
„End of Days“ würde – entgegen dem Titel – nicht vom Ende der Welt handeln, sondern „vom Austarieren des eigenen moralischen Kompasses und der eigenen Urteile“. Diese Reflexion solle dem Einzelnen die Macht über seine Entscheidungen zurückgeben, heißt es laut der Musikerin. Der Track „Holy Country“ dagegen sei von ihrem Garten in Limerick inspiriert. Eine Zeit lang hätte sie immer wieder an diesen denken müssen, dabei seien ihr Zeilen in den Kopf gekommen, die sich in ihr gefestigt hätten. Da der Gedanke sie nicht losgelassen habe, hätte sie sich alte Landkarten beschafft und dort zufällig entdeckt, dass in ihrem Garten eine heilige Quelle aus dem Jahr 1800 verborgen läge. Bei ihrem nächsten Besuch in Limerick hätte sie sich tiefer mit der Thematik beschäftigt und nebenbei „Holy Country“ verfasst. Dementsprechend handle der Text vom Zuhause-Sein, solle aber genau wie „Like Culture“ trotzdem nicht zu nostalgisch sein.
„Ich möchte mich immer wieder entwurzeln“
Nostalgie und Gemütlichkeit entsprächen der Sängerin sowieso wenig: Im Gespräch mit „NME“ berichtete sie, mit dem Begriff „gemütlich“ wenig anfangen zu können und sich auch nicht gerne so zu fühlen. Lieber würde sie „immer wieder Wege finden, mich zu entwurzeln und meinen Lebensweg zu verändern“. Dazu passt auch, dass sie zuvor über sich erzählte, schnell Langeweile zu empfinden. Aus Langeweile würden dann aber auch wieder Ideen entstehen, die aus einer weniger überreizten Stimmung stammen und dadurch eine andere Qualität besäßen.
Sinead O’Briens Spontaneität und Offenheit für Neues zeigt sich auch in ihrer Art, sich auf Shows vorzubereiten. Ihre Idee von Proben beinhaltet nicht etwa, eine fertige Choreografie einzustudieren. Sie wolle lieber dafür sorgen, dass sie sich mit ihren Lyrics sicher fühle, um dann während des Auftritts auf die Atmosphäre des Raumes reagieren zu können und den Rest auf sich zukommen zu lassen. Dann biegt sie ihren Körper auf der Bühne zu den von ihr gesagten Worten und nutzt ihn als Erweiterung dieser. Was dabei nicht direkt intuitiv erscheint, scheint bei längerem Zuschauen durchaus Sinn zu ergeben. Sie nickt im Takt und macht große Schritte, während sie meist für die maximale Bewegungsfreiheit in der einen Hand das Mikrofon, in der anderen das dazugehörige Kabel trägt. Als besonderes Kompliment empfände sie es, wenn ihre Zuschauer mit ihr zu ihrer Performance tanzen würden – so würde die eigentlich undenkbare Kombination aus Tanz und Gedicht möglich.
Warum sollten wir Sinead O’Brien im Auge behalten?
Sinead O’Briens unkonventionelles Debüt setzt an einem spannenden Punkt an: Dort wo andere auf Harmonie und Verständlichkeit setzen würden, lässt die Musikerin genau das Gegenteil zu. Dabei schafft sie es, die Balance zu wahren, sodass sie weder abschreckend noch abgehoben wirkt. Ihre Musik lässt dem Zuhörer vieles zur Interpretation offen, vermittelt aber gleichzeitig eine klar verständliche Atmosphäre zwischen Unbehagen und Wohlbefinden. So macht sie die Zuhörer neugierig auf die Hintergründe ihrer Texte, aber auch auf ihre Persönlichkeit. Mit Spoken Word setzt sich Sinead O’Brien ohnehin schon von vielen Singer-Songwriterinnen ab, hat aber auch innerhalb des Genres eine eigene Spielart etabliert, die wie auf sie zugeschnitten scheint. Ihr Auftreten, ihre Texte und ihre Musik geben ein stimmiges Bild ab und geben dem Zuhörer vielleicht gerade dadurch ein Stück Sicherheit zurück.