Sorcha Richardson, Holly Humberstone, Faye Webster und Phoebe Green sind nur einige Namen, die man sich merken sollte. Und gerade, weil alle dieser aufstrebenden Künstlerinnen etwas Besonderes an sich haben, das sich lohnt gehört zu werden, ist es schwierig, sich in diesem Dschungel aus Pop-Hymnen, ungewöhnlichen Werdegängen und völlig eigenen Welten zurecht zu finden. Wir haben für euch sechs spannende Frauen aus der Welt der Indie-Singer-Songwriterinnen herausgesucht, die mit ihren aktuellen Veröffentlichungen gut vorgelegt haben.
Phoebe Bridgers, Maggie Rogers und co., die ihren Platz am Indie-Himmel schon gefunden haben, bekommen heute Gesellschaft von Orla Gartland, die selbst großer Fan ersterer ist und 2021 ihren ersten Longplayer veröffentlichte.
Orla Gartland – Ehrlicher Selfmade-Pop mit Identifikationscharakter
Mit ihrer aktuellen Platte „Woman On The Internet“ lieferte die irische Musikerin Orla Gartland im Sommer des vergangenen Jahres ein sowohl musikalisch als auch textlich vielseitiges Indie-Pop-Debüt. Mal eingekleidet in klassische Indie-Gitarren und starke Drumbeats, mal untermalt von elektronischen Elementen oder begleitet von einem schlichten Arrangement, berichtet sie auf nonchalant-ehrliche Weise von den Tücken des Erwachsenwerdens und von ihren Selbstzweifeln. Zu einfach wäre es, sie als Singer-Songwriterin abzustempeln – einen Begriff, den Orla Gartland ohnehin nicht ausstehen kann, da er, wie sie sagt, zu klischeebehaftet sei. Das Multitalent begann schon früh mit der Musik und entwickelte sich vom YouTube-Star zur Label-Gründerin und Produzentin.
Ihre Liebe zur Musik entdeckte Orla Gartland in jungem Alter
Noch bis vor ein paar Jahren bevorzugte es Orla Gartland, sich der Musik ganz allein zu widmen: Nur sie in ihrem Zimmer in London, mit ihrer Gitarre und ihren Effektgeräten. Mit 13 Jahren begann die mittlerweile 27-jährige, von zu Hause aus Coverversionen von bekannten Songs auf YouTube hochzuladen, später folgten auch Eigenkreationen wie „the ground“ und „red brick paradise“. Doch ihr Weg zur Musik begann eigentlich schon viel früher. Im zarten Alter von vier Jahren suchte sie sich im Musikgeschäft eine Geige aus, auf der sie fortan lernte, traditionelle irische Lieder zu spielen. Die Sängerin stammt nämlich ursprünglich aus Dublin. Nach London zog sie erst nach der Schule, um sich nach dem Release ihrer ersten Single „Devil On My Shoulder“ künstlerisch weiter zu entfalten und die EP „Roots“ zu veröffentlichen. Mittlerweile hat die rothaarige Irin eine Europatour hinter sich, auf der sie auch deutsche Clubs mit ihrem selbstreflektierten Pophymnen einheizte.
Getragen von der spielerischen Entwicklung ihrer musikalischen Fähigkeiten, die durch ihr junges Alter ohne größere Selbstzweifel verlief und ihr dabei half sich auszuprobieren, lernte Orla Gartland den Umgang mit weiteren Instrumenten. Ihre YouTube-Videos lud sie zunächst ohne ein größeres Ziel vor Augen hoch. Dass sie Jahre später zu einer der vielversprechendsten Newcomerinnen zählen würde, hätte sie sich wohl selbst nie träumen lassen. Die Treue ihrer Fans erstaune sie selbst, äußerte Orla Gartland daher. Es überrasche sie, dass so viele Menschen sie über all die Jahre begleiteten.
„More Like You“: Sehnsucht nach einem perfekten und einfachen Leben
Spätestens ihre Single „More Like You“ ließ die Musikerin 2021 auf den Newcomer-Radaren aufblitzen. Auf dem poppigen Upbeat-Track beweist sie Songwriting-Qualitäten und zeigt, dass sie den Finger am Puls der Zeit hat. Ungeschönt und ehrlich berichtet sie in den Lyrics davon, sich – von ihrer eigenen Unsicherheit geblendet – zu wünschen, perfekt zu sein und ein unbeschwertes, einfach aussehendes Leben zu führen, das sie bei jemand anderem zu sehen scheint. Das Streben nach Perfektion umgeisterte das menschliche Erleben wohl schon immer, in der heutigen Zeit leisten die Sozialen Medien ihren Beitrag, um diese Selbstzweifel und Wünsche noch zu verstärken. Obwohl der Text in Orla Gartlands Fall von der anderen besten Freundin ihrer Freundin inspiriert war, fanden Fans des Titels weitere Interpretationen. So könnte der Text beispielsweise auch von einem Expartner, einem Influencer oder anderen Künstlern, mit denen man sich vergleicht, handeln. Die breite Interpretationsmöglichkeit und die nachvollziehbare, aufrichtige Schilderung von altbekannten Gefühlen machten den Song zu einer spannenden Neuerscheinung.
Auf „Woman On The Internet“ erzählt die Musikerin Geschichten
Dass „More Like You“ kein One-Hit-Wonder werden sollte, wurde mit ihrem Debütalbum „Woman On The Internet“ im August 2021 schnell klar. Orla Gartland nahm die Platte in den Middle Farm Studios in South Devon auf, wo sie erstmalig mit einer Band und einem Produzenten zusammenarbeitete. Ein Lockdown-Langspieler sollte es definitiv nicht werden, so viel sei klar gewesen. Eher wollte die Sängerin eine „Sammlung von Geschichten“ veröffentlichen, die keinem größeren Konzept folge, als ihre Gefühlswelt abzubilden. Die Demos, die sie zu den Aufnahme-Sessions mitbrachte, hatte sie allesamt bereits vorab und größtenteils allein fertiggestellt. Musik sei für die Multiinstrumentalistin etwas Höchstpersönliches und Privates. Das Loslassen und die Teamarbeit hätten sich daher zunächst herausfordernd gestaltet, berichtet sie. Dass sie auch gut im Team arbeiten kann, zeigt eine von ihr selbst produzierte 25-minütige Doku zum Album.
„Unter Frauen entstehen Synergien, die mit Männern nicht möglich wären“
Um sich versammelt hat Orla Gartland eine Gruppe aus Musikern und Musikerinnen, die ihr halfen, das Projekt zu verwirklichen. Die Suche nach einem Produzenten sei dabei besonders schwierig gewesen, erinnert sie sich in der Doku. Da sie niemanden suchte, der alles allein mache, sondern einen Partner an ihrer Seite, der wirklich ihre Vision verstehe, vergleicht sie den Prozess mit Speeddating. Schließlich fand sie den Londoner Pop- und Hip-Hop-Produzenten Tom Stafford. Auch in ihrem Team landete Schlagzeugerin Sara Leigh Shaw, die zuvor Gastauftritte an den Drums für Johnny Marr, Charli XCX und Hans Zimmer hatte. Obwohl Orla Gartlands Truppe zu großen Teilen aus Männern besteht, hätte sie sich bewusst dafür eingesetzt, auch Frauen zu engagieren. So könnten Synergien entstehen, die mit einem reinen Männer-Team nicht möglich wären, erzählt die Newcomerin. Im Studio wurde füreinander gekocht und gemeinsame Spaziergänge in der Natur unternommen.
Der Vergleich mit anderen führte Orla Gartland zu ihrem eigenen Stil
Eine frühe Inspiration Orla Gartlands sei Laura Marling gewesen, äußerte sie in einem Podcast. Daher hätte sie versucht, Songs zu schreiben, die dem Stil der Singer-Songwriterin ähnelten. Dieses Vorhaben sei allerdings irgendwann in sich zusammengebrochen, als sie bemerkte, einfach nicht so traurig und launenhaft wie die „Song For Our Daughter“-Sängerin zu sein. Diese Erkenntnis scheint sich auch in Orla Gartlands Song „Pretending“ wiederzufinden, in dem sie singt: „All of my heroes are way more sad than me/Am I the only one pretending?“
Doch die Musikerin zeigt auf ihrem Album, dass man nicht unbedingt traurig sein muss, um gute Musik machen. Woraus man nicht schließen sollte, dass die Platte ausschließlich vergnüglich klingt. Gepaart mit Synthesizern, Gitarrenriffs und teilweise fröhlichen Melodien präsentiert die 27-Jährige immer wieder nachdenkliche und sich selbst reflektierende Texte, die nicht weniger Pop sein könnten. Auf „Madison“ singt sie beispielsweise davon, sich ihre Psychotherapeutin zurückzuwünschen, während „Over Your Head“ von einer ungesunden Beziehung handelt und in „Bloodline / Difficult Thing“ die Beziehung zu ihrer Mutter beleuchtet wird. Sie selbst umschreibt ihr Werk als eine Kombination von „rockigen Gitarren, ruhiger Singer-Songwriter-Momente und klassischem Pop“.
Wer ist die „Woman On The Internet“?
Mit der titelgebenden „Woman On The Internet” sei, entgegen der dominierenden Auffassung, nicht sie selbst gemeint, obwohl ihr Erfolg passenderweise auch untrennbar mit dem Internet verbunden ist. Eher sei mit dieser in mehreren von Orla Garlands Songs vorkommenden Frau, ein schwer greifbarer Charakter gemeint. Eine Person, die als „moderner Zauberer von Oz“ auftauche, wenn die Sängerin sich verloren fühle und sich an niemanden wenden könne. Es handle sich um ein namen- und gesichtsloses Wesen, das für alles eine Antwort habe, dabei aber nicht unbedingt an ihrem Wohlergehen orientiert sei. Etwa so ähnlich wie Persönlichkeiten aus dem Internet, die einem Selbsthilfe-Ratschläge gäben, die eigentlich schon viel zu banal sind, um hilfreich zu sein. Trotzdem wolle sie ihr in schwachen Momenten das Zepter übergeben, um nicht mehr selbst nachdenken zu müssen.
Verlorenheit spielt eine große Rolle auf ihrem Erstlingswerk. Mit dem Erwachsenwerden wachsen eben auch oft Unsicherheiten, weshalb Orla Gartland diese beiden Themen in ihren Texten kombiniert. Gleichzeitig handle die Platte auch davon, genau diese Verlorenheit zu akzeptieren, schreibt die Sängerin auf ihrer Website.
Warum sollten wir Orla Gartland also im Auge behalten?
Die Auswahl ihrer Themen macht Orla Gartland daher besonders interessant für Zuhörer*innen aller Altersklassen. Sowohl Teenager als auch Erwachsene können sich mit der verletzlichen Seite der Künstlerin identifizieren. Dadurch, dass das Album keine klar abgesteckten Genregrenzen aufzeigt und wie bereits von Orla Gartland selbst beschrieben sowohl Rock als auch Pop und ruhige Titel beinhaltet, kann sich hier jeder seinen Favoriten herauspicken. Besonders spannend an der Musikerin ist aber gerade auch ihre „Selfmade-Attitude“, die sie schon früh entwickelte: Einen künstlerunfreundlichen Plattenvertrag wollte sie nie unterschreiben. Sie wollte ihre Souveränität und künstlerische Freiheit beibehalten und gründete ihr eigenes Label. Weiter ist sie persönlich für Marketing-, Management, Produktions- und Buchhaltungsaufgaben zuständig und agiert auch als ihr eigener Roadie. So macht sich die DIY-Musikerin gleichzeitig verletzlich und stark, während sie Bodenständigkeit beweist. Orla Gartland hebt sich durch ihre ehrliche, besondere und gleichzeitig für breites Publikum taugliche Musik hervor. Alles an ihr und ihren Songs wirkt echt und weckt vermutlich nicht nur bei manchen den Wunsch, „etwas mehr wie sie zu sein“.
Foto © Karina Barberis