Eingeschlossen im eigenen Zimmer zu lauter Musik von Avril Lavigne und Taylor Swift zu tanzen oder einfach nur auf dem Teppich liegend träumerisch Löcher in die Luft zu starren – so oder so ähnlich erinnern sich vielleicht noch einige an die leichten Tage ihrer Teenagerzeit. Solche Erinnerungen an das 16-jährige Ich, die möglicherweise schon vor Jahren in eine der hintersten Ecken des Gehirns verfrachtet wurden, gelingt es Singer-Songwriterin Holly Humberstone mit ihren nostalgischen Pop-Songs mühelos hervorzuholen – so als seien sie nie weg gewesen. Die Musikerin selbst ist nicht mehr 16, sondern mittlerweile 22 Jahre alt. Es mag an ihrer sanft und verletzlich klingenden Stimme liegen, vielleicht aber auch an den Melodien und weichen Gitarrenklängen, die an Taylor Swifts „Fearless“ von 2008 erinnern, oder auch an ihren rockigen Bühnenlooks, die Avril-Lavigne-Flashbacks verursachen, dass uns Holly Humberstone in eine vergangene Zeit zu versetzen mag und dabei doch ziemlich modern daherkommt.
Holly Humberstone – Netflix Coming-of-Age-Soundtrack trifft Mittzwanziger-Melancholie
Ihre erste EP „Falling Asleep At The Wheel“ veröffentlichte Holly Humberstone 2020 in die Leere des Lockdowns hinein. Eröffnet wird die Platte mit der melancholischen Ballade „Deep End“, in der sie ihrer Schwester, die eine schwere Zeit durchmacht, ihre Unterstützung ausspricht. Darauf folgt Holly Humberstones meistgehörter Track auf Spotify, der titelgebende Song „Falling Asleep At The Wheel“, der genauso eine gewisse Schwere in sich trägt, aber mit einem direkten Beat poppiger daherkommt. In „Overkill“ kommt dann zum ersten Mal eine folkige, entspannte Gelassenheit herüber, während die Musikerin ihre erste Liebe und „die ganze Aufregung, die Unsicherheit, die Verwirrung“, die damit einhergeht, besingt. Die rosarote Brille setzt sie für „Drop Dead“ schließlich wieder ab – der Song handelt von einer „schwierigen, manipulativen Beziehung“, aus der man selbst mit dem Wissen darum nicht herauskommt, so Holly Humberstone. So zeigte sie mit ihrer ersten EP bereits, dass sie nicht nur ein Mädchen mit Gitarre ist, sondern eine konkrete Vorstellung von ihrer Musik und ein Gefühl für aktuelle Popmusik hat. Mit eingängigen Melodien und jugendlichem Charme reservierte sie sich ihren Platz in der internationalen Singer-Songwriter-Szene.
Holly Humberstone beschwört mit starkem Storytelling Filmszenen herauf
Im Jahr darauf folgte die zweite EP „The Walls Are Way Too Thin“. Diese führte die Coming-of-Age-Thematik weiter. Es würde nicht überraschen, einen der sechs Titel aus der EP in einer Netflix-Produktion zu hören, so sehr fühlt man sich von Holly Humberstones Musik in einen amerikanischen Coming-of-Age-Film versetzt. „Scarlett“, ein Song, den die Sängerin für ihre beste Freundin schrieb, könnte beispielsweise den Soundtrack zum ersten freien Sommer nach dem letzten Schuljahr an der Highschool bieten. „Friendly Fire“ stellt eine Beziehung in Frage, die zwar nicht grundsätzlich schlecht ist, aber trotzdem durch die Unsicherheit eines Partners auseinanderzubrechen droht. Für „Please Don’t Leave Just Yet“ arbeitete Humberstone zusammen mit The-1975-Frontmann Matty Healy, um sich mit den Auswirkungen des Internets auf romantische Beziehungen zu beschäftigen und die Geschichte einer Romanze zu erzählen, in der nur eine Person wirklich investiert ist.
In Holly Humberstones Lyrics spiegelt sich ihr großes Talent für starkes Storytelling wider. Jeder Song lässt den Zuhörer in eine Geschichte eintauchen, die man gerne verfolgt und zu der man leicht Zugang findet. In Verbindung mit den weichen, einlullenden Sounds, die sie mit ihrer sanften Stimme ausschmückt, ziehen vor dem inneren Auge automatisch Szenen auf, die aus einem Film stammen könnten. Jeder Track bietet eine in sich geschlossene Geschichte, die sich jeder beliebig auch mit eigenen Erfahrungen ausschmücken kann.
Zugänglich und ehrlich schaffte sie sich eine breite Fanbase
Während ihre Songs 2021 immer mehr Fans fanden und die Musikerin recht schnell zu einer vielversprechenden Newcomerin aufstieg, blieb ihr kaum Gelegenheit, sich in ihre neue Berühmtheit einzuleben. Keine Live-Interviews und Auftritte waren möglich, alles fand online statt. Trotzdem ist die junge Singer-Songwriterin aus Großbritannien sehr eng mit ihrer Anhängerschaft verbunden. Zu fast jedem erschienen Song veröffentlichte sie auf YouTube auch die Entstehungsgeschichte und machte sich so nah- und nachvollziehbar. Während manche Künstler die Bedeutung ihrer Lyrics bewusst offen lassen, nimmt Holly Humberstone ihre Zuhörer an die Hand und führt gerne aus, was sie inspiriert hat und aus welchem Gefühl heraus sie ihre Texte schrieb. Sie wolle für ihre Hörer „eine Freundin oder einfach jemand, der sie versteht“ sein, erklärte sie einst, und das funktioniert mit Erzählungen aus ihrem Alltag und ihrem nostalgisch angehauchten Pop sehr gut. Sie erreicht damit nicht nur Teenager und junge Erwachsene, zu ihren Fans gehört beispielsweise auch der 43-jährige „Late Late Show“-Moderator James Corden. Die breite Fanbase der Singer-Songwriterin zeigt: Ihre Ehrlichkeit und Zugänglichkeit findet Anklang in allen Altersgruppen.
Verkatert im Zug schreibt Holly Humberstone ihre besten Texte
Verfasst habe Holly Humberstone fast alle Songs ihrer aktuellen EP während sie verkatert im Zug zurück in ihre Wahlheimat London saß. Dort zog die in der Vorstadt aufgewachsene Musikerin nach der Schule allein hin. Sie verließ ihre Geburtsstadt Grantham und damit auch das große Haus, das sie sich mit ihren Eltern und ihren drei Schwestern geteilt hatte – und das im Song „Haunted House“ Erwähnung findet –, und tauschte es gegen eine kleine Londoner WG ein. Ihre Erfahrungen mit der Umstellung und dem Großstadtrubel schildert sie im Track „The Walls Are Way Too Thin“. Darin offenbart sie, die Wohnung zu hellhörig zu finden und sich ängstlich und isoliert zu fühlen. „You’re blowing smoke rings in the corridors, I feel so cold/How come it rains inside? The house is full but I’m alone/With all the shit that still needs fixing out of my control”, heißt es beispielsweise in der zweiten Strophe. Der Regen stünde dabei nicht nur metaphorisch für ihren niedergeschlagenen Zustand, sondern beschriebe auch den schlechten Zustand der Wohnung – so unter anderem die tropfenden, nässenden Wände.
Da sich die damals frisch Zugezogene offensichtlich nicht wohlfühlte, fuhr sie oft in benachbarte Großstädte, um sich dort mit Freunden zu treffen. Sie tranken und feierten gemeinsam, um ihre Sorgen zu vergessen. Am nächsten Morgen musste Holly Humberstone aber doch wohl oder übel wieder ihren Alltag in London aufnehmen, erzählte sie in einem Interview. Die verkaterten Zugfahrten lieferten ihr Stoff für neue Songs. Mit Sicherheit wisse sie nicht, weshalb sie auf diese Weise so gut arbeiten könne. Allerdings erklärte sie, sich so mit ihren Gedanken und Gefühlen konfrontieren zu müssen, sie in ihrer reinsten und ungefiltertsten Form zu erleben, was für das Songwriting vorteilhaft sein kann.
Insgesamt fiele es ihr leichter, kreativ zu sein, wenn sie sich in einer unangenehmen oder schlimmen Situation befände, das Verfassen von Songtexten sei dann ein therapeutischer Weg, sich damit zu beschäftigen. Ehrlich gab Holly Humberstone zu, nicht immer inspiriert zu sein, gerade, weil nicht jeden Tag im Leben etwas Einschlägiges passiere. Sie hätte mittlerweile gelernt damit umzugehen, dass sie nicht jeden Tag etwas schreiben könne. Sie würde es sich nun erlauben, dem Fluss der Dinge mehr zu vertrauen und nur zu schreiben, wenn sie sich dafür bereit fühle. Eine Schattenseite dieser Vorgehensweise seien die Selbstzweifel, die die 22-Jährige immer wieder nach einer längeren Songwriting-Pause überkommen würden.
„Andere sollen sich durch meine Musik nicht mehr allein fühlen“
Im Allgemeinen würde es ihr aber trotzdem leichter fallen, in Songtexten die richtigen Worte zu finden als in alltäglichen Konversationen. So erzählte die Musikerin, oft das Gefühl zu haben, in Gesprächen nicht genau die Botschaft herüberbringen zu können, die sie im Sinn hätte. Wenn sie Musik und Lyrics schriebe, sei meist ihr Alltag das Thema. Dass sich andere Menschen nicht allein fühlen, sei ihre Motivation dabei. Daher würde sie gerne über universelle Dinge schreiben, von denen sie hoffe, dass sich viele damit identifizieren können. Das Leitmotiv ihrer bisher erschienen Songs sei das Gefühl vom Verloren-Sein und dem andauernden Versuch, sich selbst und den eigenen Weg zu finden. Holly Humberstone berichtete, sich noch lange Zeit, auch mit Anfang 20 noch so gefühlt zu haben wie mit 14 Jahren. Die Schwelle zwischen Kindsein und Erwachsenwerden hätte sie sehr beschäftigt, da sie sich lang nicht bereit gefühlt hätte, ihre Kindheit loszulassen und Verantwortung zu übernehmen.
Erste Werke: Quietschstimme und Grundschul-Drama
Das ist angesichts der von ihr beschriebenen Kindheit nachvollziehbar: Sie betonte mehrfach in Interviews, wie sehr sie an ihrem Elternhaus in Grantham hinge und wie schön sie ihre Zeit dort gemeinsam mit ihrer Familie verbracht hätte. Zusammen mit ihren Schwestern wäre sie dort mit der Ermutigung ihrer Eltern kreativ geworden, hätte früh angefangen Musik zu machen. Holly Humberstone spielt Gitarre und Klavier, doch auch mit dem Singen begann sie sehr früh. Ihre ersten Songs schrieb sie mit ca. sieben Jahren, sie sollen von Grundschul-Dramen gehandelt haben und am alten Klavier ihrer Mutter entstanden sein. Manchmal würde sich die Musikerin noch Aufnahmen ihrer frühesten Werke anhören und sie eher peinlich finden. Besonders ihre extrem hohe Stimme fiele ihr dabei immer wieder auf, so die Sängerin. Sie wäre erst mit 15 Jahren richtig in die Pubertät gekommen und hätte bis dahin eine quietschige Stimme gehabt, mit der sie oft versucht hätte Höhen á la Christina Aguilera zu erreichen, erinnerte sie sich lachend in einem Videointerview. Nun ginge ihr Motto was Gesang anbetrifft eher in Richtung „weniger ist mehr“.
Und auch ihre Herangehensweise ans Musik schreiben sah einst anders aus: Ihr Vater hätte ihr damals Gedichte ans Klavier gebracht, zu denen sie dann Musik zu komponieren versucht habe. So verknüpfe sie mit dem Vorstadt-Haus ihrer Familie unzählige Erinnerungen, es fühle sich beinahe an, als sei das Gebäude „ein siebtes Familienmitglied“. Mittlerweile sei ihr einstiges Zuhause kaum mehr bewohnbar und die Nachricht, es vielleicht bald verlassen zu müssen traf Holly Humberstone schwer, sodass sie den Song „Haunted House“ schrieb, der mit einer sanftmütigen Schwere von Erinnerungen erzählt und sich wie ein Abschiedslied anhört. Das Musikvideo zu dem Track wurde tatsächlich vor Ort gedreht, was ihm eine tiefere Bedeutung und Intimität beimisst. Dass Holly Humberstone ihre Zuhörer und Zuschauer so mit in ihr Heiligstes nimmt, zeigt erneut die enge Verbindung, die sie zu ihren Fans pflegt.
Warum sollten wir Holly Humberstone im Blick behalten?
2022 erfreute Holly Humberstone ihre Fans mit dem neuen Track „Sleep Tight“, der vielleicht auch schon einen Vorgeschmack auf ein kommendes Album darstellt. Bisher ist kein offizielles Erscheinungsdatum bekannt, in Interviews sprach die junge Musikerin aber immer wieder davon, an einem Album zu arbeiten. Der neue Song klingt sommerlich und positiv, trotzdem schwingt in ihm die für Holly Humberstone typische Melancholie mit. So bleibt er kein flacher Sommerhit, sondern beweist auch diesmal wieder ihre Fähigkeit, assoziative Geschichten in ein passendes musikalisches Gewand zu kleiden. Wer sich gerne in verträumten Popsongs verliert und sich eine Ausflucht aus dem eigenen Stress wünscht, um in fremde Geschichten einzutauchen, könnte bei Holly Humberstone fündig werden.
Foto © Universal Music