Wo soll man anfangen? Das ist die zentrale Frage, um die sich mein Gespräch mit Julien von Whitney dreht. Wo fängt man an, ein Album zu machen, wenn die Welt da draußen und in dir drin sich rigoros verändert hat und man das Gefühl hat, dass die alten Herangehensweisen nicht mehr funktionieren? Wo fängt man an mit dem Denken, dem Fühlen, dem Verarbeiten, wenn ständig so viele Veränderungen passieren, so viel Verzweiflung und Herzschmerz?
Ich frage mich, wie lang es dauern wird, bis wir in Interviews nicht mehr über die Pandemie reden werden. Wird es jemals der Fall sein? Je mehr Zeit vergeht, seitdem Anfang 2020 alles angefangen hat, je mehr Gespräche ich seitdem mit Künstler*innen hatte, desto bewusster wird mir, wie tief und verstörend dieser Einschnitt ist, für uns als Menschen, als Künstler*innen, als Gesellschaft. Einer, der vielleicht nie wieder sauber heilen wird. Und sobald er es doch tut, kommt die nächste große Umwälzung um die Ecke und reißt ihn wieder auf. Gleichzeitig höre ich oft, wie notwendig letztendlich für viele die erzwungene Pause war. Das gilt auch für Whitney, die auf diese Weise dem konstanten Touren entkommen, einen Schritt zurücktreten, sich einen Überblick verschaffen und neu organisieren konnten.
Die Musik, die Julien Ehrlich und Max Kakacek gemeinsam als Whitney kreieren, hat etwas unleugbar Warmes, Beruhigendes. Tatsächlich ist es seltsam, wie positiv und beruhigend sie auf einen wirkt, denn es liegt ihr auch eine offensichtliche Traurigkeit zugrunde, während die Texte sich oft mit Herzschmerz, Kummer und Ängsten beschäftigen. Aber mitten in diesen unsicheren, aufrüttelnden Zeiten, während draußen die Pandemie, Proteste und Waldbrände tobten, haben Whitney eine neue Art von Frieden gefunden und gelernt, in ihrem kreativen Prozess loszulassen. Diese besondere Mischung aus Entspannung und Dringlichkeit hört man dem neuen Album „Spark“ deutlich an. Wenn so viel passiert, gibt es auch viel, worüber man reden kann, weit über die Arbeit an einem neuen Album hinaus. Es war in der Tat ein Gespräch, das sich um vieles und um sich selbst gedreht hat. Aber es waren auch mit Abstand die angenehmsten 40 Minuten, die der Tag zu bieten hatte.
Wie geht es dir, Julien?
Mir geht es gut. Eines unserer Bandmitglieder hat sich verlobt und wir haben Samstag Abend bei ihr Zuhause eine Party gefeiert. Das war lustig. Es wurde etwas später, als ich erwartet hatte. Ansonsten haben wir Interviews gemacht, ein paar face to face, ein paar über Zoom.
Was magst du lieber?
Oh, definitiv face to face. Ich vermisse Europa. Wir waren schon so lange nicht mehr da. Ich glaube, wir können es beide kaum erwarten, wieder nach Europa zu kommen.
Das letzte Mal, dass ich euch live gesehen habe, war 2017 beim Primavera Sound Festival in Barcelona.
Haha, das war ein lustiger Trip. Ich und unser Bassist hatten einen Unfall mit einem Scooter an dem Morgen des Tages, an dem wir aufgetreten sind. Ich habe mir den Daumen gebrochen, musste ihn bandagieren und mit gebrochenem Daumen Schlagzeug spielen. Das war hart. Aber lustig. Heute ist das wie ein Schnappschuss aus einem früheren Leben.
Gab es während Corona Zeiten, in denen du dachtest, das Leben wird nie wieder so sein?
Hmmm, nicht wirklich. Ich habe einen Hang zum blinden Optimismus. Ich meine, es ist scheiße, dass meine Zwanziger so enden mussten. Aber ich war auch irgendwie dankbar, dass ich gute anderthalb Jahre hatte, mich hinzusetzen und ein Album zu schreiben.
Ich frage mich immer mehr, wie ihr Musiker*innen das früher gemacht habt. Ihr war als Band ja auch gefühlt durchgängig auf Tour.
Ich weiß es nicht. Während wir „Forever Turned Around“ gemacht haben, haben wir durchgängig weiter getourt. Max und ich hatten im Prinzip keinen Tag frei, seitdem unser Debütalbum fertig geworden ist, seit 2015 bis zum Beginn der Pandemie. Ich weiß nicht, ob ich es ein Problem nennen würde, aber wir haben auf jeden Fall die Angewohnheit, zu allem ja zu sagen. Wie das bei modernen Indie Bands der Fall ist, haben wir bis 2017 kein Geld verdient. Und das war auch ungefähr der Punkt, an dem wir alle ausgebrannt waren. Wir dachten okay, jetzt da das Geld fließt, können wir nicht aufhören. Wir teilen die Einnahmen aus unseren Liveauftritten zu gleichen Teilen untereinander auf und wir dachten, wir müssen zu allem ja sagen, jetzt, da alle endlich Geld verdienen… ganz ehrlich, ich versuche nur umständlich zu sagen, dass die Pandemie am Ende auch irgendwie ein Geschenk war. Natürlich war es eine traurige, erschreckende, deprimierende Zeit, in der Menschen den Verlust geliebter Menschen erfahren mussten. Es war schrecklich, aber rein kreativ gesehen war es genau das, was wir gebraucht haben.
Glaubst du, dass ihr in Zukunft nicht mehr zu allem ja sagen werdet? Oder werdet ihr schnell wieder in alte Muster zurückfallen?
Ich bin gespannt. Ich meine, im Moment können wir es einfach kaum erwarten, wieder auf Tour zu gehen. Aber ich glaube, wir sind älter geworden. Wir sind während der Pandemie auf jeden Fall erwachsen geworden. Wir lassen es automatisch etwas langsamer angehen, was Party machen und lange aufbleiben angeht. Wir werden ja zu Shows sagen, aber wir werden uns auch benehmen wie die 30 jährigen Männer, die wir heute sind. So ein Kater ist heutzutage viel schlimmer.
Dann komm erst mal in deine Vierziger, so wie ich…
Ich hoffe, ich schaffe es.
Machst du dir wirklich solche Gedanken? Wie alt du werden wirst?
Oh ja. Als ich jünger war, so in meinen frühen Zwanzigern, habe ich gerne so geredet, so ein bisschen verwegen. Ich habe den Leuten erzählt, dass ich gerne jung sterben möchte. Heute fühle ich mich nicht mehr ganz so. Ich möchte auch heiraten und Kinder haben, die ganze Nummer. Es ist ein Geben und Nehmen. Ich mag auch den Lebensstil, den ich mir ausgesucht habe und bin froh, dass ich ihn so leben kann. Er hat mich und meine Freunde aber zu einem großen Teil auch dazu verleitet, uns rücksichtslos zu verhalten, zumindest uns selbst gegenüber. Wir haben uns selbst nicht immer gut behandelt.
Wenn ich ehrlich bin, mag ich die Vierziger lieber als die Dreißiger.
Wirklich?
Irgendwie ja.
Ich meine, ich mag meine Dreißiger lieber als meine Zwanziger.
Es wird besser. Und ich meine jetzt nicht das, was ich erlebt habe, sondern wie zufrieden ich mit mir selbst bin.
Ja. Vor allem im Bezug auf die Arbeit. Ich glaube nicht, dass mein 25 jähriges Ich oder Max dieses Album hätten machen können. Ich kann in dieser Musik alle 30 Jahre meines Lebens hören und fühlen…. ich weiß nicht. Ich finde es wunderschön.
Es ist interessant, ich weiß wirklich nicht, wo ich eure Musik einsortieren soll. Sie ist nicht wirklich Pop, aber auch nicht klassisch Indie. Ein Song den ich besonders liebe, „Twirl“, hat sogar einen leichten Sixties Soul Vibe.
Das ist der Liebling von vielen Journalist*innen.
Wirklich? Verdammt, ich dachte ich wäre special.
Ich meine, wir lieben sie natürlich alle, aber „Twirl“ ist auch für uns ein besonderer Song.
Kannst du eine Sache sagen, die du so nicht gelernt hättest, wenn ihr nicht dieses Album gemacht hättet?
Ich glaube, das Wichtigste was wir gelernt haben ist, uns nicht an jeder Kleinigkeit aufzuhalten und aufzureiben, wie jedes einzelne Wort auf einer Platte. Einfach sicherzustellen, dass wir uns im richtigen Tempo vorwärts bewegen, weil wir sonst Gefahr laufen, uns zu sehr in unseren eigenen Köpfen verzetteln. Wie als wir „Forever Turned Around“ gemacht haben – das Album ist das perfekte Beispiel dafür, wie wir uns in etwas verlieren können. Aber nicht unbedingt im besten Sinne. Die Texte handeln von Ängsten und Verwirrung. Ich liebe dieses Album und bin wirklich stolz drauf. Auf diesem Album jetzt gibt es so viele besondere Momente, in denen ich hören kann, dass wir gelernt haben, uns über bestimmte Dinge nicht so viel Stress zu machen…. ich weiß es nicht. Wir lernen einfach immer noch, was in unserem Kreativprozess wirklich wichtig ist. Es macht heute viel mehr Spaß. Man hört, dass wir sehr frei sind, und gleichzeitig traue ich mich, in den Abgrund eines gebrochenen Herzens zu starren und dem Gefühl ins Auge, jemanden verloren zu haben, den ich wirklich liebe und der mir etwas bedeutet.
Wenn man sich Dingen stellt, ist das auch befreiend, oder? Sonst holt es einen immer wieder ein.
Ja… wir sind am Ende übrigens wieder zusammen gekommen (lacht). Und dann haben wir uns wieder getrennt und sind wieder zusammen gekommen… es war so eine On-and-Off-Beziehung. Ich weiß nicht was es genau ist, diese Wirkung die wir aufeinander haben. Es gab Zeiten, da habe ich den schlimmsten emotionalen, oder sagen wir romantischen Schmerz erfahren. Eine Zeit lang war das meine größte Angst. Und jetzt, da ich da durch bin… ich weiß nicht, was mich jetzt noch erschüttern könnte.
Glaubst du, dass Liebe weh tun muss?
Ich glaube nicht, dass Liebe weh tun muss. Ich glaube nicht, dass sie weh tun sollte. Aber ich glaube, sie tut es.
Ich glaube, viele Leute denken, Beziehungen müssen kompliziert sein, das bindet aneinander. Und ich glaube nicht, dass das stimmt.
Ich meine, ich glaube zumindest, dass gesunde Auseinandersetzungen eine Notwendigkeit sind. Aber die Grenze zwischen gesund und ungesund ist da auch sehr fließend. Ich glaube, es ist schwierig. Die letzten Jahre meines Lebens habe ich in dieser Beziehung verbracht und ich habe mich oft gefragt: warum? Warum verdammt nochmal muss es so schwierig sein? Und gleichzeitig habe ich es mir nicht ausgesucht. Ich denke nicht, dass man sich aussucht, wen man liebt. Das was ich fühle, kann ich schwerlich umgehen.
Ich bin seit über 20 Jahren in einer festen Beziehung. Und ich hatte das wirklich so nicht geplant.
Wow. Das freut mich für dich. War es während der Pandemie schwierig?
Es war schon hart, in dem Sinne, dass unser Familienleben darauf basiert, dass jeder frei sein Leben führt. Das ging ja während der Pandemie gar nicht mehr. Plötzlich waren wir vier Menschen, die in einer Wohnung aufeinander saßen. Das hat mich schon beklemmt. Ich hatte Angst dass mein Leben so, wie ich es kannte und brauche, mit Musik und Konzerten, vielleicht nie wieder so sein wird.
Eigentlich sind Konzerte immer noch nicht wieder so, wie sie vor der Pandemie waren. Die ganze Live-Industrie ist gefühlt in einem furchtbaren Zustand.
Habt ihr schon wieder Konzerte gespielt?
Letztes Jahr haben wir diese Sache gemacht, dass wir durch die USA getourt sind, den Leuten ihre Handys weg genommen haben und einen Großteil von „Spark“ gespielt haben. Das hat Spaß gemacht. Es ist seltsam, ich hatte ursprünglich das Gefühl, dass alle sehr glücklich und aufgeregt über die Rückkehr von Livemusik waren. Während jetzt wirklich überall, für alle Bands meiner Freunde, die Ticketverkäufe den Bach runter sind. Ich verstehe es nicht. Ich hoffe, es stabilisiert sich wieder.
Lebenshaltungskosten schießen in die Höhe, es herrscht Krieg und die Pandemie ist auch noch nicht vorbei…
Ja, und jetzt machen die Affenpocken den Leuten Angst. Es ist ziemliche Scheiße.
Aber ihr habt vor, nach Europa zu kommen, oder?
Ja, im November (lacht). Es wird passieren. Wenn nicht im November, dann irgendwann nächstes Jahr. Es wird passieren.
Erzähl von den Feuern, die ihr erlebt habt, als ihr „Spark“ gemacht habt.
Oregon war während der Pandemie und allem was sonst noch passiert ist ein wirklich verrückter Ort. Allein das politische Klima in der Stadt ist so angespannt, es macht mir wirklich Angst. Proud Boys und Antifa geraten die ganze Zeit aneinander. Die Innenstadt von Portland ist für mich der apokalyptischste Ort in ganz Amerika. Und gleichzeitig waren die Proteste für George Floyd so wunderschön, es hat mich wirklich zum Weinen gebracht. Und dann waren da die Waldbrände. Es hat sich angefühlt, als wären wir in Portland mitten im Zentrum des Sturms. Ich finde, man hört das an der Dringlichkeit und Unmittelbarkeit des Albums. Ich glaube, wir haben versucht eine Welt zu kreieren, in die wir flüchten und in der wir leben konnten, wenn das soziale und politische Klima draußen vor der Tür zu viel wurde, um es zu ertragen. Während der Waldbrände war der Luftqualitätsindex für ein paar Tage der schlimmste auf der ganzen Welt. Es hätte dem Körper nachhaltigen Schaden zugefügt, wenn man sich zu lange draußen aufgehalten hätte. Es war wirklich, wirklich verrückt. Und wir haben in einem alten Haus gelebt, das nicht gut isoliert war, der Rauch ist jede Nacht nur so in mein Zimmer gequollen. Das war wirklich krass.
Es ist nicht wirklich die Zeit, um sorglos zu sein, oder? Vor allem wenn man jung ist. Angst vor der Pandemie, Klimapanik und ganz in der Nähe herrscht Krieg.
Ich glaube, es gibt nicht viel Raum, um sorgenfrei zu leben. Es passiert einfach zu viel. Ich finde, das ist den Kids wirklich genommen worden.
Deshalb hoffe ich so sehr, dass die Livemusik überleben wird. Wir brauchen einfach einen Ort, an dem wir loslassen können.
Ich glaube nicht, dass es ganz weg gehen wird. Allerdings gibt es in Amerika noch einen Faktor, der es einem quasi unmöglich macht, sich in der Hinsicht gehen zu lassen, und das sind Waffen und Massenschießereien. Das hat mir komplett jedes Gefühl von Sicherheit genommen und die Möglichkeit, mich in großen Mengen wohl zu fühlen. Ich habe mich neulich mit einer Freundin unterhalten, die in Kanada lebt. Wir haben auch darüber geredet und ich meinte: „Weißt du, es ist jetzt schon mehr als einen Monat her, dass etwas wirklich Schreckliches passiert ist.“ Dort wo meine Eltern leben, hat es eine Schießerei gegeben und drei Menschen sind gestorben. Und ich meinte: „Na ja, das ist nicht ganz so schlimm.“ Ich habe versucht, es zu relativieren. Es war zumindest ein wenig her, dass zehn oder mehr Menschen durch sinnlose Waffengewalt gestorben waren. Also ist mir das so raus gerutscht und sie meinte: „Meinst du das ernst? Hörst du, was du da sagst?“ Und ich meinte: „Ich weiß, es ist krank. Aber so fühle ich mich nunmal.“ Ich habe wenigstens eine Minute mal keine wirklich schockierende Schlagzeile gelesen. Wir sind einfach total desensibilisiert. Es ist traurig. Ich hasse es wirklich hier. Ich liebe meine Freunde und natürlich gibt es Seiten der USA, die ich liebe und denen ich mich verbunden fühle. Aber es fühlt sich schon an, als wäre es kurz davor, dass man hier gar nicht mehr leben kann.
Ich frage mich immer, wo man als Künstler*in anfängt, bei all den vielen Dingen, die ständig passieren. Mit der inneren Welt, der äußeren… betäubt einen das nicht regelrecht, wenn es so viel gibt, worüber man schreiben könnte?
Ich glaube nicht, dass wir jemals wirklich versucht haben, über Politik zu schreiben. Wir schreiben über Angst und wir schreiben über Ängste. Wir fangen so an, dass wir etwas schreiben, das einerseits universell ist und gleichzeitig spezifisch genug, dass die Leute sich damit identifizieren können. Und dass es den Menschen hilft. Wir waren noch nie politisch in dem Sinne, dass wir gesagt hätten: „Geht da raus und tut das!“
Ich finde aber, sobald man über Ängste und Depressionen spricht, wird es automatisch vom persönlichen zum sozialen Thema, weil gefühlt jeder betroffen ist.
Oh ja. Aber ich finde es nicht betäubend. Ich glaube nicht, dass wir die Art von Band sind, von der die Leute etwas erwarten wie Neil Youngs „Ohio“. Wie ein Song spezifisch über das Schulmassaker von Uvalde oder über George Floyd. Wir haben gesunden Menschenverstand und das Herz ganz bestimmt am rechten Fleck, was das angeht. Ich glaube nur nicht, dass die Leute das von uns hören müssen. Oder wir haben noch nicht herausgefunden, wie wir offen über diese Sachen schreiben können, auf eine Art, die uns stolz macht oder von der wir das Gefühl haben, dass sie etwas zur Gesellschaft beiträgt.
Foto © Tonje Thilesen