Letzen Sommer, der Sommer seines 84. Geburtstags, ging mein Vater noch jeden zweiten Tag eine Runde Golf spielen. Mit etwas schlimmeren als einer leichten Erkältung sah man ihn all die Jahre nicht kämpfen. Anfang September, einen Tag nach einem weiteren sonnigen Vormittag auf dem Golfplatz, fing er sich einen Virus ein, der ihn derart umwarf, dass er sich im Krankenhaus wiederfand. Da die Ursache seiner Erkrankung erst spät festgestellt wurde, kam eine Hirnhautentzündung hinzu. Den Virus und die Entzündung bekam man mit Antibiotika in den Griff, die Ergebnisse der Untersuchungen blieben trotzdem niederschmetternd – die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten meines Vaters hatten, gemäß seines Alters, drastisch nachgelassen und es sei ab sofort mit einer stetigen Verschlechterung zu rechnen. Nach zwei Wochen Krankenhaus kam mein Vater nach Hause und es war eindeutig: er war nicht mehr derselbe und würde es nie mehr sein.
Diesen Sommer wird mein Sohn eingeschult. Bei der Einschulung meiner Tochter vor ein paar Jahren haben meine Eltern uns noch in Berlin besucht. Es steht völlig außer Frage, dass sie das dieses Jahr werden tun können. Meine Mutter ist 80 und von ihren Beschwerden her das genaue Gegenstück zu meinem Vater. Bei ihr ist es nicht der Geist, der nicht mehr so recht will, sondern der Körper, Gebrechen reiht sich an Gebrechen. Der Alltag ist bestimmt von permanenten Schmerzen, der Behandlung dieser und dem unausweichlichen Umgang mit ihnen. Seit ein paar Monaten habe ich täglich mit Pflegedienst, Krankenkasse und Amtsgericht zu tun. Ich bestelle Essen auf Rädern und fülle Überweisungsträger für die Bank aus.
Es ist nicht leicht, die eigenen Eltern alt werden zu sehen. Und obwohl es ein Thema ist das fast jeden von uns irgendwann in irgendeiner Form betrifft, wird darüber wenig gesprochen, geschweige denn erzählt. In dem wunderbaren Film „Das Leuchten der Erinnerung“ spielt Donald Sutherland einen an Demenz erkrankten Universitätsprofessor. Die Frustration über seine Unfähigkeit sich auszudrücken, ein fast kindlicher Ausdruck der Verzweiflung auf seinem Gesicht, erinnerte mich so eins zu eins an meinen Vater, dass ich eine Menge Tränen vergießen musste. Neulich habe ich versucht, mir „Still Alice“ anzusehen, in dem Julianne Moore eine an Frühdemenz erkrankende Sprachwissenschaftlerin spielt. Ich musste abschalten nach der Szene, in der sie während einer Untersuchung im Krankenhaus gebeten wird sich eine Adresse zu merken, die ganz nebenbei später wieder abgefragt wird. Ich konnte mich genauso wenig erinnern wie Alice, das hat mich so erschreckt, dass ich nicht weiter gucken konnte.
Gleichzeitig fühle ich mich von dem Thema stärker angezogen denn je. Und so habe ich mich neugierig auf den ersten Roman der Journalistin Anuschka Roshani gestürzt. In „Komplizen – Erinnerungen an meine noch lebenden Eltern“ schreibt sie autobiografisch über ihre Jugend in Berlin, vor allem aber auch über den Schmerz den es bedeutet, seinen Eltern beim Altern zuzusehen. Eine Geschichte direkt aus dem Leben und trotzdem fernab der Alltäglichkeit. Denn ihre Eltern sind zwei Ausnahmeexemplare: ihr Vater kam Mitte der fünfziger Jahre aus Teheran nach Deutschland und wurde ein angesehener Chirurg, ihre Mutter verdingte sich zu jener Zeit als Fotomodell. Das Cover zieren Fotos dieser außergewöhnlich charismatischen Menschen, sie sehen aus wie Filmstars aus einer anderen Zeit.
Anuschka Roshani hat sich entschieden, ihren Eltern, die sich als Paar zwar bereits in ihrer Kindheit trennten, aber immer auf ihre eigene Art „Komplizen“ geblieben sind, bereits zu Lebzeiten ein Denkmal zu setzen. Ihr Vater ist inzwischen an Parkinson erkrankt. Einen großen Teil ihrer Erzählung widmet sie der emotionalen Schwierigkeit, die neue Hinfälligkeit des einst so aktiven und attraktiven Mannes zu akzeptieren, der als junger Mann seinen Kopf kahl rasierte, weil ihm zu viele Frauen nachstellten und der im hohen Alter noch ein drittes Mal Vater wurde.
Sie tut das sehr sympathisch und ehrlich, wenn sie zum Beispiel zugibt, dass sie an manchen Tagen froh ist, ihn telefonisch nicht zu erreichen, einmal nicht mit seinen Veränderungen konfrontiert zu werden. Ihre Geschichte ist nicht deprimierend, und wenn man wie ich in einer ähnlichen Situation steckt, fühlt sie sich fast an wie ein Austausch mit jemanden, der ähnliche Erfahrungen macht. Das ist aufbauend und gleichzeitig unterhaltend. Auch wenn sie über die Entdeckung ihrer eigenen zunehmenden Hinfälligkeit berichtet, von einem Sturz, der sie gesundheitlich für einen Moment aus dem Gleichgewicht bringt. Das Leben ist fragil und das Alter nicht aufzuhalten. Anuschka Roshani erzählt in „Komplizen“ mit Empathie, Tiefgang, Humor und Leichtigkeit von einem Aspekt unseres Lebens, dem die Kunst sich selten widmen, an dem wir aber alle nicht vorbei kommen. Es tut gut, sich gleichermaßen unterhalten und verstanden zu fühlen.
Info: Anuschka Roshani ist in Westberlin geboren, war jahrelang Redakteurin und Reporterin beim „Spiegel“. Heute lebt sie in der Schweiz und arbeitet für „Das Magazin“. „Komplizen“ ist ihr erster Roman und bei Kein und Aber erschienen. Er kann hier käuflich erworben werden.
Gelesen von: Gabi Rudolph